Children in a makeshift camp for displaced people in Atmeh, Syria, February 2013.
© Amnesty International
Wer ist ein Flüchtling?
Ein Flüchtling ist eine Person, die „. . . aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will . . .“ (Genfer Flüchtlingskonvention von 1951).
A. wehrt sich seit Jahren gegen Anwerbungsversuche der verschiedenen gegeneinander kämpfenden Parteien. Sie drohen, seine beiden Söhne mitzunehmen. Er verlässt daraufhin seine Heimat zusammen mit seiner Familie.
B. arbeitet bei einer Zeitung. Er hat schon öfter Artikel verfasst, in denen er sich kritisch mit der Regierung auseinandersetzte. Schon mehrmals sind die Räume der Zeitung durchsucht worden. Freunde warnen ihn. Er verlässt sein Land.
C.s Mann und ihr Sohn sind bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen. Sie fürchtet um das Leben ihrer anderen Kinder und verlässt mit ihnen das Land.
D. findet seit Wochen nichts mehr zum Essen. Die anderen Dorfbewohner und sie machen sich auf den Weg in Richtung Grenze.
E. hat sein Haus und all seinen Besitz durch die letzte Flutkatastrophe verloren. Die Aufbauarbeiten verzögern sich immer wieder und die versprochene Entschädigung bleibt aus. Er verlässt mit Frau und Kind sein Land.
F. saß mehrere Jahre wegen der Teilnahme an Demonstrationen im Gefängnis. Nach seiner Entlassung wird er mehrmals zu Verhören abgeholt. Mit Hilfe von Freunden verlässt er sein Land.
G. leidet an einer Augenkrankheit. Ohne qualifizierte ärztliche Maßnahmen wird er erblinden. Seine Eltern schicken ihn ins Ausland.
H. ist ein gläubiges Mitglied seiner Gemeinde. Seit einem Jahr ist die Ausübung seiner Religion offiziell verboten. Er will seinen Glauben nicht verleugnen und entschließt sich, seine Heimat zu verlassen.
I. wurde beim Einmarsch der Truppen verschleppt und mehrmals vergewaltigt. Mit anderen Frauen flieht sie über die Grenze.
J. hat mit sechs Jahren angefangen zu arbeiten. Er träumt davon, eine Schule zu besuchen und Arzt zu werden. Gemeinsam mit seinem älteren Bruder verlässt er sein Land.
K. war Kommandant einer Eliteeinheit zur Aufspürung von Regimegegnern. Nach dem Umsturz verlässt er sein Land.
L. hat viele Freunde und Bekannte im Ausland. Da er keine Arbeit findet, verlässt er seine Heimat.
M.s Kinder leben schon seit einigen Jahren in einem anderen Land. Jetzt ist ihr Mann gestorben und sie will bei ihren Kindern leben.
N. will nicht als Soldat im Krieg kämpfen. Er verlässt sein Land.
O. hat mehrere Filme im Ausland veröffentlicht und internationale Preise erhalten. Er wird verhaftet und der Staatsfeindlichkeit beschuldigt. Nach internationalen Protesten darf er sein Land verlassen.
P. wird mit dreizehn Jahren an einen älteren Mann verheiratet. Sie muss sich immer im Haus aufhalten. Ihr Mann schlägt sie. Während eines Familientreffens in der Hauptstadt gelingt es ihr, zusammen mit ihrer Tochter unterzutauchen und später das Land zu verlassen.
Q. wird nach einem Streit mit seinem Nachbarn von diesem als Regimegegner denunziert. Sein Haus wird mehrmals durchsucht und seine Familie bedroht. Aus Angst verlässt er mit seiner Familie das Land.
R.s Dorf wird von den Söldnern des Großgrundbesitzers zerstört, da die Dorfgemeinschaft sich weigerte, Anbaufläche abzugeben. Er muss mit seiner Familie aus der Gegend verschwinden.
S. wird wegen seiner Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe mehrmals aus verschiedenen Gemeinden vertrieben. Er und die anderen Mitglieder seiner Familie finden weder Arbeit noch Unterkunft. Sie verlassen das Land.
T. ist Lehrerin. Nach dem Regierungsumsturz dürfen Frauen nicht mehr außerhalb des Hauses arbeiten. Ihre Töchter dürfen nicht mehr zur Schule gehen. Gemeinsam mit ihrem Mann und ihren Kindern verlässt sie das Land.
U. muss während des Krieges ihre Heimatstadt verlassen. Gemeinsam mit vielen anderen Menschen ist sie wochenlang unterwegs Richtung Grenze.
V. lebt mit seiner Familie im Grenzgebiet zweier sich bekämpfender Gruppen. Immer wieder werden Kinder von beiden Seiten entführt und als Soldaten ausgebildet. Mit seinem Bruder wird er von seinen Eltern außer Landes geschickt.
W.s Frau gehört nicht zur gleichen Volksgruppe wie er. Nach Ausbruch des Bürgerkrieges werden er und seine Familie immer wieder deswegen bedroht. Gemeinsam verlassen sie das Land.
X. darf außerhalb des Hauses nicht die von seiner Religion vorgeschriebenen Kleider tragen. Immer wieder wird er wegen seiner Religionszugehörigkeit bedroht und mehrmals verhaftet. Er verlässt das Land.
Y.s Vater wird verhaftet. Ihre Brüder haben vor einiger Zeit das Dorf verlassen. Gemeinsam mit einer Bekannten verlässt sie ihre Heimat.
Z. weigert sich, auf seine Nachbarn zu schießen. Daraufhin wird er schwer bestraft. Er verlässt sein Land.
Wer entscheidet? Nach welchen Kriterien? Unabhängig und objektiv?
Diese Fluchtgeschichten sind schon älter, aber sie gleichen in den Grundzügen aktuellen so sehr, dass wir ihnen gerne noch einmal zuhören:
Name: Aubin
Alter: 32 Jahre
Heimatland: Ruanda
Geburtsort: Byumba
Familienstand: verheiratet, 1 Kind
Beruf: Betriebswirt
Ich heiße Aubin und ich komme aus Ruanda. Mit 32 Jahren habe ich meine Heimat verlassen. Mein Vater ist Hutu und meine Mutter ist Tutsi. Meine Familie kommt aus Byumba. Ich wohnte für einige Zeit in Kigali und studierte dort Betriebswirtschaftslehre. Nach meiner Heirat mit einer Tutsi-Frau zog ich wieder nach Byumba. Dort wurde auch meine Tochter geboren. Ich arbeitete im Geschäft meines Vaters. Die gewalttätigen Konflikte zwischen Hutu und Tutsi belasteten unsere Familie immer wieder. In meinem Heimatland ist eine Person, die nicht eindeutig einer der beiden Bevölkerungsgruppen zuzuordnen ist, in ganz besondere Weise gefährdet.
Aubin erzählt:
Ich bin in Ruanda. Die Lebenssituation wird immer schwieriger. Viele meiner Freunde sind sowohl Hutu als auch Tutsi. Viele jüngere Männer und Frauen aus der Familie meiner Frau haben sich der „Front Patriotique Rwandais“, FPR angeschlossen. Jüngere Mitglieder der Familie meines Vaters sind in der Regierungsarmee. Meine Familie fühlt sich von allen Seiten bedroht. Trotzdem wollen wir nicht fliehen. Meine Eltern sind alt und müde. Sie haben während ihres Lebens schon zu viel wegen dieses Konfliktes verloren. Zwei Brüder meines Vaters sind während der gewalttätigen Auseinandersetzungen Anfang der 1960er-Jahre ums Leben gekommen. Er selbst saß mehrmals im Gefängnis, wurde immer wieder verdächtigt, ein Tutsi-Anhänger zu sein. Meine Mutter hat viele Mitglieder ihrer Familie verloren. Einige sind in die Nachbarländer geflohen. Von vielen haben wir nie mehr etwas gehört. Andere wurden umgebracht. Wir hatten gehofft, dass sich unter der Regierung Habyarimanas etwas zum Guten ändern würde und haben sie deshalb unterstützt. Aber wir wurden enttäuscht. Zwar geht es unserer Familie finanziell sehr gut, aber der ethnische Konflikt im Land ist nicht gelöst. Die alten Strukturen sind erhalten geblieben. Ich will das nicht akzeptieren: Wir sind Ruander. Meine Tochter ist weder Tutsi noch Hutu. Sie ist eine Ruanderin. Immer haben wir versucht, uns aus diesem Konflikt heraus zu halten und unseren Geschäften (Import/Export/Transport) nachzugehen. Jetzt habe ich große Angst. Seit 1990 verschärft sich die Situation. Erneut kommt es zu Flüchtlingswellen und Massakern an der Zivilbevölkerung von beiden Seiten. Die Familie meines Bruders flieht nach Kigali und bittet uns nachzukommen und gemeinsam nach Burundi zu gehen. Ich zögere. Dann kommt es zur Belagerung von Kigali durch die FPR. Ich höre nichts mehr von meinem Bruder. Meine Frau ist wieder schwanger, viele Freunde sind geflohen und wir entschließen uns nun auch zur Flucht nach Burundi. Vorher müssen jedoch einige geschäftliche Dinge wegen des Verkaufs unseres Unternehmens in Kigali geregelt werden. Meine Familie soll alles ordnen und wir treffen uns dann bei Freunden in Kigali, um von dort aus gemeinsam nach Burundi zu reisen.
Am Abend des 6. Aprils 1994 wird das Flugzeug von Präsident Habyarimana abgeschossen. Sein Tod ist das Signal für eine unglaubliche Mordwelle. Die Präsidentengarde, jugendliche Milizen und Teile der Armee schlachten alles nieder, was nach Opposition aussieht. Die Tutsi-Bevölkerung wird landesweit erbarmungslos verfolgt.
Innerhalb von Tagen werden eine halbe Million Menschen ermordet.
Hutu und Tutsi fliehen. Ich versuche meine Familie zu erreichen. Vergeblich. Ich habe sie nie mehr wieder gesehen. Ich fliehe Richtung Burundi. Es herrscht absolutes Chaos. Tausende und Abertausende von Menschen sind auf der Flucht. Das Elend und der Schrecken sind unaussprechbar. Nie werde ich vergessen, wie Mütter ihre Kinder am Straßenrand zurücklassen müssen. Sie können nicht drei, vier Kinder tragen. Sie müssen sich entscheiden. Menschen fallen um und bleiben liegen. Wir gehen weiter. Es gibt nichts zu essen, nichts zu trinken. Immer wieder werden wir überfallen. Ich weiß nicht, wo wir sind. Wenn wir von der Straße abweichen, besteht die Gefahr, auf Minen zu treten. Einmal ist ein ganzes Stück der Straße zerstört und wir werden wieder angegriffen. Ich weiß nicht von wem, alles rennt und ich laufe mit.
Viele Menschen kommen durch Minen um. Dort wo sie liegen, zeigen sie den Nachfolgenden den Weg. Die Schwerverletzten bleiben einfach zurück. Ich sehe nur noch auf meine Füße. Ich gehe und gehe. Ich kann nur daran denken, dass ich nicht anhalten darf.
Nach endlos langen Tagen oder Wochen kommen wir in einem Flüchtlingslager an.
Ich bin krank, habe Fieber. Ich bin völlig orientierungslos. Meine Tasche, meine Schuhe und Jacke habe ich unterwegs verloren. Ich habe keine Kraft mehr. Meine Füße sind eine einzige Wunde. Ich lege mich einfach hin. Dann kommt jemand mit Wasser. Irgendwann werde ich medizinisch versorgt.
Das Lager ist die Hölle. Die Menschen sind zusammengepfercht, die Versorgung ist schlecht. Viele sterben.
Auch im Lager gibt es gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Hutu und Tutsi. Mehrmals werde ich geschlagen. Ich will hier nicht bleiben. Aber ich weiß auch keinen Ausweg. Nach langer Zeit geht es mir besser und ich habe Glück: Ein alter Geschäftspartner meines Vaters liefert Waren ins Lager und erkennt mich.
Er nimmt mich mit und bringt mich nach Bujumbura, der Hauptstadt von Burundi. Von ihm höre ich auch, dass meine ganze Familie ermordet wurde. Ich will nie mehr nach Hause. Ich habe kein Zuhause mehr. Ich will und kann auch nicht in Burundi bleiben. Ich habe keinen Pass. Mein Freund besorgt mir einen gefälschten Pass und mithilfe seiner Beziehungen kann ich als offizielles Mitglied einer Public-Relations-Gruppe ausreisen. Diese Leute sind freundlich, doch ich weiß, dass sie viel Geld dafür bekommen, mich nicht zu verraten. Ich bin meinem Freund sehr dankbar und stehe für immer in seiner Schuld.
Ich gehe allein zum Flughafen.
Dort treffe ich die Gruppe. Wir passieren ohne große Probleme alle Kontrollen. Ich habe ein Visum für Deutschland in meinem neuen Pass. Ich bin aufgeregt und habe furchtbare Angst. Nachdem das Flugzeug in Deutschland gelandet ist, müssen wir durch die Passkontrolle. Alles funktioniert bestens. Die Gruppe geht in ein kleines Hotel. Ich habe etwas Geld bekommen und das Zimmer ist für zwei Wochen bezahlt. Die Gruppe reist weiter nach Holland. Ich gebe ihnen wie verabredet meinen Pass und bleibe für mehrere Tage in meinem Zimmer. Ich will nicht mehr weiter fliehen. Ich entscheide mich dafür, einen Asylantrag zu stellen.
Name: Kana
Alter: 65 Jahre
Heimatland: Sri Lanka
Geburtsort: Kilinochchi
Familienstand: verheiratet, 4 Kinder
Ich heiße Kana und komme aus Sri Lanka. Mit 65 Jahren habe ich meine Heimat verlassen. Ich bin Tamilin. Meine Familie lebte in einem kleinen Ort in der Nähe von Kilinochchi im Norden Sri Lankas. Seit 1983 gibt es in meinem Land einen Bürgerkrieg. Die Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) kämpfen gegen Regierungstruppen für einen unabhängigen Staat der Tamilen im Norden und Osten des Landes. Mein Mann war Besitzer einer Apotheke in Kilinochchi. 1995 wurde unser Haus von Granaten der singhalesischen Armee zerstört. Mein Mann wurde dabei getötet. Ich floh mit meinem jüngsten Sohn nach Vavunija. Mein ältester Sohn und meine beiden Brüder waren aktive Mitglieder der LTTE. Ich weiß nicht, wo sie sind und ob sie noch leben. Meine beiden Töchter gingen schon 1991 mit ihren Familien nach Deutschland.
Kana erzählt:
Ich bin in Sri Lanka. Die Regierungstruppen starten eine Großoffensive zur Rückeroberung der Halbinsel Jaffna. Unser Haus wird zerstört, mein Mann getötet. Schon seit Monaten habe ich nichts von meinem ältesten Sohn gehört, der Mitglied und aktiver Kämpfer der LTTE ist. Mein jüngster Sohn lebt bei mir. Er ist nicht verheiratet. Nach der Zerstörung unseres Hauses und den immer heftigeren Kämpfen, entschließen wir uns zur Flucht Richtung Süden. Wir wollen in der Stadt Vavuniya Zuflucht suchen. Dort leben Verwandte von uns. Tausende von Menschen sind auf der Flucht. Kämpfer der LTTE nutzen den Flüchtlingsstrom als lebendes Schutzschild, um sich vor Angriffen der Regierungstruppen zu schützen. Dadurch werden wir öfters beschossen. Es gibt wenig oder gar nichts zu essen. Immer wieder hindert uns die eine oder andere Seite der Kämpfer am Weiterkommen. In der Nähe von Vavuniya hören wir, dass die Stadt die Flüchtlinge nicht aufnehmen wird. Die Menschen sind verzweifelt. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen.
Wir erreichen ein Flüchtlingslager.
Die Situation im Lager ist verheerend. Die Armee verhindert wochenlang die Durchfahrt von Lastwagen mit Hilfsgütern. Wir leiden an Hunger und es gibt keine medizinische Versorgung. Wer jünger als 35 Jahre ist, wird von der Geheimpolizei mitgenommen. Ich sehe meinen Sohn nicht wieder. Nach einiger Zeit wird es Personen, die nachweisen können, dass sie Verwandte in Vavunija haben, erlaubt, die Stadt zu betreten. Ich erreiche das Haus meiner Verwandten. Allerdings habe ich nur ein 24-Stunden Visum für die Stadt. Durch die Vermittlung meiner Verwandten und durch die Zahlung hoher Bestechungsgelder gelingt mir die Weiterreise nach Colombo auf einem Lastwagen. Wir müssen immer wieder Straßenkontrollen passieren.
Dann sind wir endlich in der Hauptstadt.
Ich wohne in einer Pension und kann Kontakt mit meinen Töchtern in Deutschland aufnehmen. Sie wollen, dass ich zu ihnen komme. Aber ich erhalte kein Visum für Deutschland. In Colombo finden immer wieder Razzien gegen Tamilen statt. Obwohl sich die Fahndungen überwiegend gegen jüngere Tamilen richten, werde ich zweimal verhaftet. Da ich keine Arbeit nachweisen kann, droht man mir damit, dass ich Colombo wieder verlassen muss. Die Verhöre machen mir Angst, da ich vieles nicht verstehe. Ich spreche nur Tamil und nicht Sinhala. Ich will unbedingt das Land verlassen. Über verschiedene Kontaktpersonen können mir meine Töchter eine größere Geldsumme zukommen lassen. Mit Hilfe dieser Kontaktpersonen wird meine Flucht nach Deutschland organisiert.
In einer Nacht- und Nebelaktion reise ich mit einem kleinen Schiff nach Indien.
Die Überfahrt ist beschwerlich. Wir sind eine Gruppe von acht Personen. Wir sprechen nicht miteinander. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sind und wo wir in Indien an Land gehen. Mit dem Bus fahren wir weiter in eine größere Stadt und werden dort in einer kleinen Wohnung untergebracht. Diese dürfen wir nicht verlassen. Essen und Getränke werden uns gebracht. Meinen Pass habe ich abgegeben und bekomme ihn nach wenigen Tagen wieder. Ich habe jetzt ein Visum für die Niederlande. Wieder sind wir für mehrere Tage mit dem Bus unterwegs.
Wir gehen dann zu einem Flughafen.
Wir gehen als Reisegruppe durch die Kontrollen und fliegen nach Moskau. Hier wird uns mitgeteilt, dass wir mit dem Lastwagen weiterfahren müssen. In einem Haus warten wir auf die Weiterfahrt. Wir sind jetzt eine größere Gruppe. Nicht alle Personen kommen aus Sri Lanka. Ich weiß aber nicht, woher sie kommen. Ich bleibe für mich und spreche mit niemandem. Ich fühle mich krank. Eines Nachts werden wir abgeholt.
Wir müssen in einen geschlossenen Lastwagen steigen. Es ist sehr eng. Wir bekommen mehrere Kanister Wasser und etwas Essen. Die Tür wird verschlossen und wir fahren los. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sind. Es ist eine Qual. Die Luft ist sehr schlecht und wir haben bald nichts mehr zum Essen. Nach sehr, sehr langer Zeit werden die Türen geöffnet und wir werden in ein Haus gebracht. Dort können wir uns waschen und bekommen zu essen und zu trinken. Dann geht es wieder weiter. Ich weiß nicht, welche Strecke wir gefahren sind. Noch zweimal halten wir an und wieder werden wir in Häusern untergebracht. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt. Ich kann nicht erkennen, wo wir sind. Dann heißt es, dass wir nun zu Fuß weitergehen müssen. Es ist Nacht und sehr kalt. Wir laufen mehrere Stunden. Ich bin so müde und zweimal stürze ich. Ein junger Mann hilft mir. Als es Tag wird, müssen wir uns verstecken. So geht es mehrere Tage und Nächte. Unsere Führer verschwinden tagsüber. Es sind auch nicht immer die gleichen Personen. Dann, eines Nachts zeigen sie uns den Weg in eine bestimmte Richtung. Der junge Mann, der mir schon vorher geholfen hat, begleitet mich. Wir erreichen eine kleine Stadt. Wir sind in Deutschland. Mit einem Taxi fahren wir zum Bahnhof und dann mit dem Zug mehrere Stunden in eine größere Stadt. Dort hilft mir der junge Mann noch, meine Töchter anzurufen. Dann verschwindet er. Ich warte mehrere Stunden am Bahnhof. Dann kommt meine Tochter mit ihrem Mann. Sie bringen mich zu sich nach Hause.
Nach ein paar Tagen begleiten sie mich zum Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Ich beantrage Asyl.
Name: Leila
Alter: 30 Jahre
Heimatland: Algerien
Geburtsort: Oran
Familienstand: ledig
Beruf: Ärztin
Ich heiße Leila, ich bin Algerierin. Ich bin 30 Jahre alt, als ich meine Heimat verlasse. Ich bin Ärztin.
Meine Familie kommt aus Oran. Meine Eltern waren beide Lehrer. Ich studierte Medizin in Algier und bekam nach einiger Zeit einen Arbeitsplatz in einem Hospital in Blida.
In dieser Region kam es häufig zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen regulären Sicherheitskräften und islamischen Fundamentalisten.
Im Rahmen meiner Tätigkeit im Hospital beriet ich auch junge Frauen in Bezug auf Empfängnisverhütung. Diese Aktivität verschaffte mir zahlreiche Feinde bei den islamischen Fundamentalisten. Gleichzeitig bestand ich auf einer Gleichbehandlung aller Patienten unabhängig von ihrer religiösen oder politischen Weltanschauung und hielt mich streng an die ärztliche Schweigepflicht. Dies wiederum führte zu Anfeindungen von Seiten der algerischen Sicherheitskräfte.
Leila erzählt:
Ich bin in Algerien. Meine Situation in Blida wird immer unerträglicher. Ich wohne zusammen mit einer Arbeitskollegin in einer kleinen Zweizimmerwohnung. Wir gehen nur noch mit Angst ans Telefon. Mehrmals werden wir durch männliche Anrufer beschimpft und bedroht. Es ist nicht erkennbar, ob es sich dabei immer nur um islamische Fundamentalisten handelt. Ich finde eines Morgens ein Leichentuch vor unserer Tür. Wir gehen zur Polizei. Dort nimmt man unsere Ängste nicht ernst. Man rät mir, ich solle halt meinen Beruf aufgeben und heiraten und Kinder bekommen. Dann würde mich auch niemand mehr bedrohen.
Nach unserer Anzeige bei der Polizei werde ich im Hospital mehrmals von Sicherheitskräften behelligt, die mich auffordern, Informationen über Patienten regelmäßig an sie weiterzugeben. Ich weigere mich und bestehe auf meiner ärztlichen Schweigepflicht. Man droht mir damit, dass ich meine Arbeit verlieren werde, wenn ich nicht kooperiere.
Gleichzeitig wird der Druck von Seiten der islamischen Fundamentalisten gegen unsere Arbeit mit den Frauen stärker. Zweimal pro Woche bieten wir im Hospital eine Beratung speziell für Frauen an, die sich auch mit Fragen der Empfängnisverhütung befasst. Zwei Frauen, die an diesen Beratungen teilnahmen, werden nach dem Verlassen der Klinik brutal auf offener Straße zusammengeschlagen. Die Tür meines Büros im Hospital wird mehrmals aufgebrochen und die Einrichtung verwüstet. Die zuständige Polizeibehörde reagiert auf die Anzeigen der Klinikleitung nur zögerlich. Die Klinikleitung selbst überlegt, ob das Beratungsangebot nicht besser eingestellt werden solle.
Obwohl ich die islamischen Bekleidungsvorschriften ablehne, gehe ich nur noch mit Kopfbedeckung auf die Straße. Jeden Tag hören wir von gewalttätigen Übergriffen durch islamische Fundamentalisten, aber auch – allerdings nur hinter vorgehaltener Hand – vom brutalen Vorgehen der Sicherheitskräfte, auch gegen Unbeteiligte. Es herrscht ein Klima der Angst und des Misstrauens. Ich bin mit meinen Nerven am Ende. Viele Menschen aus meiner Umgebung haben Algerien schon verlassen. Aber ich will nicht gehen. Ich liebe trotz aller Schwierigkeiten meine Arbeit in der Klinik und ich habe viele Entbehrungen auf mich genommen, um meine Ausbildung nach dem frühen Tod meiner Eltern abschließen zu können.
Als ich eines Abends von der Arbeit nach Hause gehe, sehe ich schon von weitem Rauch und einen Menschenauflauf in unserer Straße.
In unserem Haus ist eine Bombe explodiert. Meine Freundin und zwei Bewohner des Hauses sind tot, andere schwer verletzt. Das Haus ist total zerstört. Ich weiß nicht, ob die Bombe gegen uns gerichtet war. Aber ich nehme es in diesem Moment als ganz sicher an. Ich will sofort das Land verlassen. Ich gehe zu Freunden. Ich habe zwar meinen Pass in der Tasche, aber ich traue mich nicht, über den Flughafen auszureisen. Der Bruder eines Freundes studiert in Deutschland. Also beschließen wir, dass ich nach Deutschland gehen soll. Die Freunde organisieren für mich eine Überfahrt auf einem Frachter. Alles ist sehr hektisch, keiner denkt vernünftig nach.
Ich gehe zum Hafen.
In der Nacht begebe ich mich heimlich an Bord. Der Kapitän weiß Bescheid und hat sein Geld schon bekommen. Er zeigt mir einen Platz im Laderaum. Es ist eine Nische, dort liegt ein Beutel mit Essen und ein Kanister mit Wasser. Es gibt auch einen Eimer als Toilette. Er verlangt, dass ich mich absolut ruhig verhalte. Die Besatzung darf nichts erfahren, da er sonst nicht für meine Sicherheit garantieren kann. Er ist nicht unfreundlich, trotzdem habe ich große Angst. Ich weiß nicht, wie lange das Schiff unterwegs ist. Aber ich habe sehr bald nichts mehr zum Essen und mir ist ständig übel. Es gibt kaum Luft zum Atmen. Ich denke, ich werde hier sterben. Nach unendlich langer Zeit holt mich der Kapitän und bringt mich in der Dunkelheit an Land.
Er zeigt mir den Weg zum Bahnhof.
Dort gehe ich in den Waschraum. Dann kaufe ich eine Fahrkarte. Meine Freunde haben mir auf dem Schwarzmarkt französisches Geld eingetauscht. Ich muss noch sechs Stunden warten, bis der richtige Zug abfahren wird. Ich habe das Gefühl, alle Menschen um mich herum können erkennen, dass ich auf der Flucht bin. Ich habe Angst und versuche, mich so unauffällig wie möglich zu verhalten. Der Zug ist nicht so voll und ich bekomme einen Fensterplatz. Ich versuche zu schlafen. Aber jedes Mal, wenn die Abteiltür geöffnet wird, schrecke ich hoch.
Dann komme ich in Deutschland an.
Ich rufe den Bruder meines Freundes an. Er kommt zum Bahnhof und holt mich ab.
Er wohnt in einem Studentenwohnheim. Er hat nur ein kleines Zimmer. Er ist nicht besonders begeistert über meine Anwesenheit. Er erklärt mir, dass ich nicht für längere Zeit bei ihm wohnen kann. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Dann sagt er, das Beste sei, ich würde Asyl beantragen. Dann bekäme ich auch ein eigenes Zimmer.
Name: Mariam
Alter: 9 Jahre
Heimatland: Afghanistan
Geburtsort: Kabul
Ich heiße Mariam und ich komme aus Afghanistan. Als ich meine Heimat verlassen muss, bin ich 9 Jahre alt.
Ich lebte mit meiner Mutter in Kabul. Mein Vater, der bei der Regierung Najibullahs arbeitete, wurde von den Mudjaheddin getötet. Meine Mutter und ich wohnten im Haus meiner Tanten. Die Männer der Familie waren sehr unfreundlich zu uns. Sie nannten meinen Vater einen Verräter und einen Feind des afghanischen Volkes.
Eine Schule besuchte ich nie. Mädchen dürfen in meinem Land nicht in die Schule gehen. Aber meine Mutter war Lehrerin und sie brachte mir und meinen Cousinen Lesen und Schreiben bei. Die Bücher und Hefte versteckten wir in unserem Zimmer. Meine Mutter hatte sie heimlich ins Haus gebracht.
Mariam erzählt:
Ich bin in Afghanistan. Kabul wird immer noch von den Taliban beherrscht. Meine Mutter darf nicht mehr als Lehrerin arbeiten. Es ist Frauen verboten, außerhalb des Hauses einer bezahlten Tätigkeit nachzugehen. Dadurch wird unsere Situation im Haus meiner Verwandten immer schwieriger. Die Versorgungslage in Kabul ist sehr schlecht.
Wenn ich auf die Straße gehe, muss ich mich genauso anziehen wie die älteren Frauen. Einmal werden wir kontrolliert und ich werde geschlagen, weil angeblich meine Burqa nicht richtig sitzt. Meine Mutter ist wütend.
Sie streitet sich mit meinem Onkel, der sie schlägt. Er sagt, sie kann nicht länger im Haus bleiben. Sie sei immer noch eine Anhängerin der Demokratischen Volkspartei Afghanistans (DVPA) und damit eine Gefahr für die ganze Familie. Das Beste wäre, sie würde verschwinden. Und mich würde man so schnell wie möglich aufs Land verheiraten. Es sei schon alles geregelt. Die Frauen sind entsetzt, aber sie können sich nicht offen wehren. In der Nacht treffen sich die Frauen auf dem Dach des Hauses. Sie geben meiner Mutter Geld und Schmuck. Mit Hilfe eines Freundes meiner Mutter verlassen wir Kabul mit einem Lastwagen. Wir verstecken uns unter der Ladung. Ich weiß nicht, wie lange die Fahrt dauert. Ein paarmal halten wir an und wir können kurz vom Wagen runter. Wir sind beide tief verschleiert. Einmal werden wir kontrolliert. Aber wir werden nicht entdeckt. In der Nähe der pakistanischen Grenze treffen wir auf mehr Flüchtlinge. Jetzt müssen wir zu Fuß weiter gehen. Der Freund wünscht uns Glück und verlässt uns. Wir schließen uns einer großen Flüchtlingsgruppe an. Große Teile des Grenzgebietes sind vermint.
Wir haben Glück und werden beim Überqueren des Minenfeldes nicht verletzt. Ich kann nicht mehr weiterlaufen. Meine Mutter trägt mich auf ihrem Rücken. Manchmal schlafe ich ein. Ich weiß nicht, wie lange wir unterwegs sind. Ich habe Hunger und Durst. Ich will nicht weitergehen. Meine Mutter erzählt mir Geschichten. Andere Frauen mit ihren Kindern bilden mit uns zusammen eine geschlossene Gruppe. Wenn wir rasten, liegen wir Kinder in der Mitte und die Frauen bilden einen engen Kreis um uns. Es gibt viele Frauen, die ohne Männer auf der Flucht sind. Aber es gibt auch viele Familien und einzelne Männer. Diese sind nicht immer freundlich zu uns. Meiner Mutter geht es nicht gut. Manchmal trägt mich eine der anderen Frauen.
Nach unendlich langer Zeit erreichen wir ein Flüchtlingslager in Pakistan.
Das Lager ist riesig. Meine Mutter ist sehr krank. Aber nach ein paar Wochen geht es ihr besser. Da sie gut Englisch spricht, hat sie bald Kontakt zu den ausländischen Helfern. Gemeinsam mit den anderen Frauen baut sie einen Lagerdienst auf, der sich besonders um die alleinstehenden Frauen kümmert. Auch im Lager gibt es islamische Fundamentalisten. Besonders die Frauen vom Lagerdienst werden von diesen immer wieder angegriffen. Die ausländischen Helfer sind machtlos. Eines Morgens werden zwei Frauen aus der Gruppe meiner Mutter ermordet aufgefunden. Meine Mutter ist verzweifelt. Sie will, dass wir nach Europa fliehen. Sie hat immer noch den Schmuck und sie nimmt Kontakt mit einer Fluchthilfeorganisation auf. Allerdings ist der Preis sehr hoch. Mit einer Familie, die ich nicht kenne, muss ich eines Nachts das Lager verlassen. Meine Mutter verspricht mir, sich mit uns am Flughafen zu treffen. Ich soll mit niemandem sprechen und nur das tun, was mir gesagt würde. Wir fahren mit einem Auto mehrere Stunden. Wir sprechen nicht miteinander.
Dann erreichen wir den Flughafen.
Dort werden wir von zwei mir unbekannten Männern in Empfang genommen. Meine Mutter kommt nicht. Ich verstehe überhaupt nichts. Zusammen mit der Familie und den beiden Männern gehe ich durch die Kontrollen. Die Männer verschwinden und wir besteigen das Flugzeug. Wir fliegen los und ich bin wie versteinert. Ich weiß nicht, wie lange der Flug dauert. Ich schlafe ein. Ich weiß auch nicht, wo wir landen. Die Familie spricht überhaupt nicht mit mir. Ich merke, dass sie große Angst haben. Wir verlassen das Flugzeug und auf einmal sind die Leute, die ich kenne, weg. Ich setze mich in eine Ecke. Menschen rennen an mir vorbei. Dann spricht mich ein Mann in einer mir unverständlichen Sprache an. Er ist freundlich und nimmt mich mit. Ich werde in die Räume des Bundesgrenzschutzes gebracht.
Name: Sima
Alter: 26 Jahre
Heimatland: Iran
Geburtsort: Teheran
Familienstand: verheiratet, 1 Kind
Ich heiße Sima. Ich komme aus dem Iran. Als ich meine Heimat verlassen muss, bin ich 26 Jahre alt.
Ich komme aus einem sehr liberalen Elternhaus. Wir wohnten in Nord-Teheran, und ich besuchte das Gymnasium. Mein Vater war Mitglied der kommunistischen Partei Irans (Tudeh-Partei) und Teppichgroßhändler im Basar. Er wurde 1986 verhaftet und starb im Gefängnis. Unser Haus und unser Geschäft wurden enteignet. Ich lebte dann mit meiner Mutter bei ihrer Familie in Süd-Teheran. Eine Schule besuchte ich nun nicht mehr. Meinen Mann lernte ich dort über meine Familie kennen und obwohl er sehr religiös war, stimmte ich der Heirat zu. Nach der Geburt unseres Sohnes teilte er mir mit, dass er Anhänger der Volksmudjaheddin sei. Dies ist in meinem Land lebensgefährlich.
Sima erzählt
Ich bin im Iran. Ich lebe mit meiner Familie in Süd-Teheran. Mein Mann besitzt hier ein kleines Fotogeschäft. Wir sind nicht sehr reich, aber wir haben ein kleines Haus, das uns gehört. Anders als in Nord-Teheran wird hier besonders extrem auf die Einhaltung der islamischen Vorschriften geachtet. Auch mein Mann legt darauf viel Wert. Mir fällt es sehr schwer. Obwohl oder gerade weil mein Mann Anhänger der Volksmudjaheddin ist, achtet er besonders darauf, in unserer Nachbarschaft nicht aufzufallen. Mitglieder oder Anhänger dieser politischen Gruppe zu sein, ist lebensgefährlich. Die iranische Regierung betrachtet die Volksmudjaheddin als ihren ärgsten politischen Feind und verfolgt Anhänger und Sympathisanten mit größtmöglicher Härte. Mein Mann hat mir nie mitgeteilt, welche Stellung er in der Organisation hat. Aber manchmal finden in unserem Haus Treffen statt. An dem Verhalten der Teilnehmer erkenne ich die Achtung, die sie meinem Mann entgegenbringen. Mein Mann war schon mehrmals für einige Wochen nicht in Teheran. Ich weiß, dass er dann an einer politischen Aktion teilgenommen hat. Aber er erzählt darüber nichts. Es sei besser, ich wüsste nichts davon. Zu meinem Schutz und zum Schutz unseres Sohnes.
Jetzt ist er schon wieder für einige Tage weg.
In der Nacht höre ich Schläge an unserer Haustür. Ich habe Angst. Trotzdem öffne ich die Tür. Bewaffnete Mitglieder der Sicherheitskräfte stürmen ins Haus. Sie wollen wissen, wo mein Mann ist. Sie durchsuchen unser Haus und zerschlagen dabei die Möbel. Ich werde verhaftet. Mein Sohn wird von einer Nachbarin mitgenommen. Ich weiß nicht, wohin ich gebracht werde. In den folgenden Tagen werde ich immer wieder verhört und brutal geschlagen. Sie fragen mich nach meinem Mann. Sie behaupten, ich sei auch ein Mitglied der Volksmudjaheddin. Ich beteuere, dass ich von nichts weiß. Sie glauben mir nicht. Ich werde in einen dunklen Raum gesperrt. Ich verliere jedes Gefühl für Zeit.
Irgendwann werde ich abgeholt und mit verbundenen Augen mit einem Auto hin und her gefahren. Dann werde ich auf die Straße gestoßen. Ich bin in der Nähe meines Hauses. Aber ich traue mich nicht dorthin. Es ist ungewöhnlich, dass sie mich nicht vor ein Gericht gestellt und verurteilt haben. Ich bin sicher, sie beobachten mich und unser Haus und hoffen, meinen Mann festnehmen zu können. Ich mache mir Sorgen um meinen kleinen Sohn. Ich weiß nicht, wohin ich gehen, was ich machen soll. Ich laufe einfach los und stehe irgendwann vor dem Haus meines Schwagers. Ich bin so müde, ich klopfe und seine Frau öffnet mir. Sie erschrickt, als sie mich sieht und zieht mich schnell ins Haus. Sie wissen schon Bescheid. Mein Sohn ist bei meiner Mutter, die Nachbarin hat ihn dort hingebracht. Meine Mutter ist sofort mit ihm in ein Dorf in den Nordiran gefahren. Dort gibt es entfernte Verwandte von uns. Mein Schwager sagt, dass mein Mann nicht mehr im Iran ist, und ich auch sofort das Land verlassen muss. Ich habe keine eigenen Reisepapiere. Aber er sagt, es sei schon alles organisiert. Es muss nur sehr schnell gehen.
Wir verlassen das Haus über die Dächer. Ein paar Straßen weiter wartet ein Auto. Den Fahrer kenne ich nicht. Ich muss mich auf die Rückbank legen. Mein Schwager sagt noch, dass ich mich auf den Mann verlassen kann. Dann fahren wir los. Wir sind zwei Tage unterwegs. Manchmal halten wir an. Der Mann spricht nicht viel. In einem kleinen Ort im Norden Irans wechselt der Fahrer. Eine kurze Zeit später halten wir im Wald. Dort steht ein anderes Auto. Eine verschleierte Frau reicht mir meinen Sohn ins Auto. Auf meine Fragen bekomme ich keine Antwort. Noch zweimal wechselt der Fahrer. Dann muss ich mit meinem Sohn das Auto verlassen. Ich weiß nicht, wo wir sind. Irgendwo in den Bergen. Der Mann erklärt mir, dass ich jetzt per Pferd in die Türkei gebracht werde. Wir sind mehrere Wochen unterwegs. Ich werde von einer Gruppe zur nächsten weitergereicht. Manchmal müssen wir für mehrere Tage in einem Versteck bleiben.
Dann sind wir in der Türkei. Mit einem normalen Bus fahre ich nach Istanbul. Dort gehe ich in ein kleines Hotel. Die Adresse habe ich vorher von meinen Fluchthelfern bekommen. Das Zimmer ist schon bezahlt und ich werde nicht nach Papieren gefragt. Im Zimmer finde ich einen Koffer mit allem Notwendigen für mich und meinen Sohn
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Nach zwei Tagen werde ich von einer älteren Frau zum Flughafen begleitet.
Dort treffe ich einen Iraner, den ich nicht kenne, und wir reisen mit ihm als dessen Frau und Kind aus. Es gibt keine Probleme bei den Kontrollen. Er schreibt mir die Flugnummer (LH 204) und die Nummer der Bordkarte (B / LH / 204 / 28) auf einen Zettel. Nach der Landung verschwindet er sofort. Ich stelle mich ganz hinten in der Schlange an. Als ich dran bin, sage ich laut und deutlich: „Ich will Asyl.“
Name: Tarik
Alter: 16 Jahre
Heimatland: Irak
Geburtsort: Halabja
Ich heiße Tarik. Ich bin Kurde aus dem Irak. Als ich meine Heimat verlassen muss, bin ich 16 Jahre alt.
Am 16. März 1988 bombardierte die irakische Armee meine Heimatstadt Halabja mit Giftgas. 5000 Menschen starben sofort. Mein Vater und meine vier Geschwister kamen ums Leben. Ich überlebte, weil ich mit meiner Mutter außerhalb der Stadt unterwegs war. Voll Panik verließen wir mit vielen Menschen das Gebiet. Wir waren Wochen unterwegs. Ich erinnere mich an nichts mehr. Wir waren in verschiedenen Flüchtlingslagern. Danach lebten wir in der Nähe von Arbil. Immer wieder kam es zu Kämpfen zwischen den verschiedenen kurdischen Gruppen (vor allem Kurdische Demokratische Partei, KDP; Patriotische Union Kurdistan, PUK) in der Region. Je älter ich wurde, um so öfter wurde ich aufgefordert, mich einer der Parteien anzuschließen. Meine Freunde hielten mich für einen Feigling oder für einen Verräter. Ich wollte nicht kämpfen.
Tarik erzählt:
Ich bin im Irak. Die Versorgungslage ist miserabel. Der Winter war so kalt, dass viele Menschen starben. Auch meine Mutter fiel der Kälte und dem Hunger zum Opfer. Ich lebe jetzt zusammen mit meinem Onkel. Wir haben eine kleine Hütte und versuchen, uns durch Gelegenheitsarbeiten in Arbil über Wasser zu halten. Immer wieder kommt es zu Kämpfen zwischen den verfeindeten kurdischen Organisationen. Im Sommer 1996 spitzt sich die Lage dramatisch zu. Es kommt zu schweren Kämpfen zwischen der PUK und der KDP. Mein Onkel wird von Anhängern der KDP bestialisch umgebracht, weil er sich weigerte, sich ihnen anzuschließen. Ende August greifen irakische Elitetruppen auf Seiten der KDP in die Kämpfe ein. Sie benutzen diesen Einsatz, um Jagd auf die in den Nordirak geflüchteten Oppositionellen zu machen. Auch in unserem Dorf wüten sie. Sie zerstören unsere mühsam aufgebauten Häuser und bringen zahllose Menschen um. Ich will mit diesem Morden nichts mehr zu tun haben. Ich versuche, nach Arbil zu kommen, werde aber unterwegs von den irakischen Truppen gefangen genommen. Sie behandeln mich wie ein Tier. Sie schlagen und sie treten mich. Sie nehmen mir meinen Stolz. Dann lassen sie mich einfach liegen. Warum haben sie mich nicht getötet? Vielleicht aus einer Laune heraus. Vielleicht aus Grausamkeit? Ich weiß nicht, wann ich wieder zu mir kam. Ich entschloss mich, den Irak endgültig zu verlassen. Ich habe von meinem Onkel gehört, dass Verwandte von uns damals in der Türkei geblieben sind. Sie leben jetzt in Istanbul. Ich versuche in die Türkei zu fliehen. Der Grenzübergang ist gefährlich. Unter anderem hat die Türkei große Teile des Grenzgebietes vermint.
Ich komme nur langsam voran. Es wird immer kälter. Ich muss es vor dem Winter geschafft haben. Durch Gelegenheitsarbeiten und durch kleine Diebstähle gelingt es mir zu überleben und dann habe ich genug Geld, um mit dem Bus bis nach Istanbul zu fahren. Nach langer Suche finde ich Überlebende aus meiner Geburtsstadt. Sie sind nicht unfreundlich zu mir, aber sie können kaum für sich selbst sorgen. Sie raten mir, nach Deutschland zu fliehen. Doch die Fluchthilfe kostet viel Geld. Obwohl ich jede, wirklich jede Arbeit annehme, kann ich niemals das Geld für einen Flug mit Pass und Visum zusammenbekommen. Bekannte machen mir einen Kontakt mit einer Fluchtgruppe, aber sie warnen mich. Die Fluchthelfer sind billig, aber ihnen nicht bekannt. Ich bin verzweifelt und schließe mich ihnen an.
Auf Umwegen, zu Fuß, per Lastwagen und manchmal im Bus kommen wir bis in die Nähe von Kiew. Dort werden wir für mehrere Wochen in einer kleinen Wohnung untergebracht. Unsere Fluchthelfer verschwinden und kommen nicht wieder. Wir sind verzweifelt. Nachbarn werden auf unsere Lage aufmerksam. Sie geben uns Lebensmittel. Dann tauchen zwei neue Fluchthelfer auf. Sie wollen nochmals Geld von uns. Die meisten können nicht bezahlen. Sie müssen die Wohnung verlassen. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist. Ich besorge mir das Geld (und ich werde niemals erzählen, woher) Nach zwei Tagen kommt eine neue Gruppe von Flüchtlingen an. Wir müssen uns auf engstem Raum in einen Container drängen und dieser wird von außen verschlossen. Wir haben nur Wasser dabei. Der Lastwagen fährt los und hält nur ganz selten an. Wir sind mindestens vier bis fünf Tage unterwegs. Die Luft ist kaum noch zu atmen. Die kleinen Kinder haben aufgehört zu weinen. Es stinkt bestialisch.
Dann irgendwann halten wir an und die Türen werden geöffnet. Männer zerren uns raus, schließen die Türen und fahren davon. Eine Frau fängt an zu schreien. Ihr Kind ist tot. Ich fange an zu rennen. Ich renne und renne, bis ich zusammenbreche. Ich weiß nicht, wer mich gefunden hat. Als ich aufwache, liege ich in einem warmen Bett. Eine junge Frau gibt mir etwas zu essen. Ich verstehe sie nicht, aber ich verstehe, dass ich in Deutschland bin. Sie telefoniert viel und nach einiger Zeit kommen zwei junge Männer. Sie geben mir saubere Kleider. Einer von ihnen spricht ein wenig türkisch. Ich verstehe, dass sie mich in eine Stadt bringen wollen. Weit weg und dort zu einer Behörde. Sie geben mir einen Zettel. Den soll ich dort vorzeigen. Ich habe Angst, aber sie beruhigen mich. Wir sind dann mehrere Stunden mit dem Auto unterwegs.
Sie bringen mich zu einer Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. Dort beantrage ich Asyl.
Name: Bedrettin
Alter: 20 Jahre
Heimatland: Türkei
Geburtsort: Midyat
Ich heiße Bedrettin. Ich komme aus der Türkei. Als ich meine Heimat verlassen muss, bin ich 20 Jahre alt.
Meine Familie kommt aus Midyat, einer kleinen Stadt im Südosten der Türkei. Mein Vater hatte früher dort einen Bauernhof. Wir sind Kurden. Als mein Vater sich weigerte, das Amt des Dorfschützers zu übernehmen, brannten Soldaten der türkischen Armee den Hof nieder. Sie schlugen meine Eltern und verletzten meine Mutter so schwer, dass sie auf einem Auge erblindete und ihr ungeborenes Kind verlor. Ich war damals noch keine zehn Jahre alt. Wir sind danach mit anderen Leuten nach Izmir gezogen. Mein Vater arbeitete zuerst als Straßenverkäufer und eröffnete dann mit Freunden ein kleines Geschäft. Meine Mutter verließ nur selten die Wohnung. Menschen in Uniform machten ihr panische Angst. Ich bekam meinen Einberufungsbefehl kurz vor meinem zwanzigsten Geburtstag.
Bedrettin erzählt:
Ich bin in der Türkei. Wir leben seit einigen Jahren in Izmir, in einem Viertel, das überwiegend von Kurden bewohnt wird. Unsere Wohnung ist nicht sehr groß, aber wir haben ein kleines Geschäft für Haushaltswaren in der Nähe des Basars. Mein Vater hat nach unser Ankunft hier Tag und Nacht gearbeitet, bis er ein klein wenig Wohlstand erreicht hat. Mein Vater ist ein friedliebender Mensch und seiner Familie sehr verbunden. Das bezieht sich auch auf entferntere Verwandte. Wenn jemand im Westen der Türkei Fuß gefasst hat, kommen oft Verwandte aus der alten Heimat und bitten um Unterstützung. Zurzeit lebt bei uns ein älterer Bruder meiner Mutter. Er verlässt die Wohnung eigentlich nie. Mein Vater ist nicht sehr glücklich über diesen Besuch. Er will, dass ich im Geschäft und nicht zu Hause schlafe.
In der Nacht werde ich durch die Polizei geweckt. Sie treten die Tür des Geschäfts ein und zerren mich in ein Auto. Sie verbinden mir die Augen und schlagen auf mich ein. Ich weiß nicht, wo sie mich hinbringen. In einem Raum werde ich auf einen Stuhl gedrückt. Man fragt mich nach meinem Onkel. Wann er angekommen ist. Wie lange er bei uns wohnt. Ob mein Vater mit ihm zusammenarbeitet. Wie lange wir schon für die PKK tätig sind. Ich bestreite, dass wir für die PKK arbeiten. Immer wieder schlagen sie auf mich ein. Dann bringen sie mich in einen anderen Raum. Meine Hände sind gefesselt und meine Augen verbunden. Noch zweimal werde ich zum Verhör geholt und immer wieder geschlagen. Dann werde ich wieder in ein Auto gestoßen und nach kurzer Fahrt auf die Straße geworfen.
Ich befinde mich in der Nähe des Polizeireviers und schleppe mich quer durch die Stadt nach Hause. Unsere Wohnungstür ist aufgebrochen, die Wohnung verwüstet. Nachts haben bewaffnete Sicherheitskräfte die Wohnung gestürmt und meinen Onkel mitgenommen. Mein Vater hat meine Mutter zu Nachbarn gebracht und anschließend nach mir gesucht. Auf dem Polizeipräsidium haben sie behauptet, von dem Vorfall nichts zu wissen. Wir bekommen auch später keine Informationen über meinen Onkel und auch von meiner Verhaftung will niemand etwas wissen.
Dann bekomme ich meinen Einberufungsbefehl. Für mich und meine Familie ist ein Zusammenhang zwischen der sehr plötzlichen Einberufung und den Ereignissen in den letzten Tagen offensichtlich. Ich befürchte, dass die Einberufung dazu dient, meiner Person habhaft zu werden. Für einen Kurden, dem eine Verbindung zur PKK unterstellt wird, kann der Militärdienst tödlich sein. Unabhängig von den Ereignissen in den letzten Tagen hatte ich nie vor, meinen Militärdienst abzuleisten. Ich lehne jede Form einer gewalttätigen Konfliktlösung ab.
Da ich seit einiger Zeit Freunde beim Verein der Kriegsdienstgegner in Izmir habe, wollte ich eigentlich, auch auf Grund meiner persönlichen Geschichte den Militärdienst aus Gewissensgründen offiziell verweigern. Aber jetzt sieht die Sache anders aus. Meine Familie entscheidet, dass ich sofort die Türkei verlassen muss. Da eine Ausreise über den Flughafen zu gefährlich erscheint, soll ich die Türkei illegal verlassen und Schutz in Deutschland suchen. Ich reise mit meinem Vater nach Istanbul. Freunde von ihm organisieren für mich die Flucht.
In einem verplombten Container verlasse ich die Türkei. Die Reise ist unbequem, aber nicht unerträglich. Ich habe zu keiner Zeit die Möglichkeit den Container zu verlassen. Ich bekomme auch nicht gesagt, durch welche Länder wir nach Deutschland fahren. Die Reise dauert mehrere Tage. Auf einem Parkplatz in der Nähe einer deutschen Stadt wird die Tür geöffnet. Ich verlasse den Parkplatz, ohne den Fahrer zu Gesicht zu bekommen. Mit dem Zug fahre ich weiter und komme für einige Tage bei Bekannten unter.
Dann gehe ich zum Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge. Ich beantrage Asyl.
Name: Vesna
Alter: 12 Jahre
Heimatland: Bosnien – Herzegowina
Geburtsort: Srebrenica
Ich heiße Vesna. Ich komme aus Bosnien – Herzegowina. Als ich meine Heimat verlassen muss, bin ich 12 Jahre alt.
Meine Familie kommt aus Srebrenica. Wir hatten ein kleines Restaurant. Ich wohnte mit meinem Vater, meiner Mutter, meiner Schwester und meinen beiden Brüder in einer großen Wohnung über dem Restaurant. Ich bin das jüngste Kind. Seit Beginn des Krieges in Bosnien lebten in meiner Heimatstadt Tausende von Flüchtlingen. Auch bei uns wohnten Verwandte und Bekannte aus den umliegenden Dörfern. Seit April 1992 war unsere Stadt eingekesselt. Sie wurde von den Vereinten Nationen zur Schutzzone erklärt. Mehr als drei Jahre war unsere Stadt eingeschlossen und von fast jeder Versorgung abgeschnitten. Unser Leben veränderte sich in dieser Zeit dramatisch. Dann marschierten die serbischen Truppen in Richtung Stadt.
Vesna erzählt:
Ich bin in Bosnien. Seit drei Jahren ist unsere Stadt eingeschlossen. Nur wer sehr reich ist und viel Geld bezahlen kann, darf die Stadt verlassen. Aber auch das ist nicht immer möglich. Und niemand kommt von außen in die Stadt. Nur manchmal werden Lastwagen mit Hilfsgütern hereingelassen. Aber das ist sehr selten und nicht immer bringen sie die dringend erwarteten Nahrungsmittel. Einmal gab es eine ganze Ladung mit neuen Zahnbürsten. Vielleicht sollten wir die kochen. Nichts ist in unserem jetzigen Leben wie vorher. Es gibt nichts zu essen, keine Medikamente, keine Kleidung, kein Licht und so viele Tote. Ich wusste nicht, dass der Tod so riecht. Ich werde diesen Geruch nie vergessen. Die Menschen fallen einfach um und sterben. Manchmal liegen sie tage- und wochenlang auf der Straße. Mein Vater sagt, die Welt hat uns vergessen. Und immer wieder fallen Schüsse und Granaten schlagen ein. Manchmal träume ich und die Granatenschläge verwandeln sich in den Donner eines Frühlingsgewitters und sanfter Regen fällt auf die Erde. Wir haben kein Wasser. Immer wieder versuchen die Männer, nachts außerhalb der Stadt Nahrung zu besorgen. Viele kommen nicht wieder. Meine beiden Brüder sind schon seit Wochen fort. Ich bete, dass sie am Leben sind und sich an einem sicheren Ort aufhalten. Aber ich weiß tief in meinem Herzen, sie würden uns nicht alleine lassen. Sie würden zurückkommen, wenn sie könnten.
Heute sind die serbischen Milizen in die Stadt eingedrungen. Sie haben alle Menschen aus den Häusern getrieben. Immer wieder fallen Schüsse. Sie schießen den Menschen in den Kopf, in den Rücken, in die Beine. Wir werden auf einen großen Platz getrieben. Die Männer werden von ihren Familien getrennt. Mein Vater wird mit anderen auf einen Lastwagen geschoben und dann müssen wir loslaufen. Ich klammere mich an meine Mutter und versuche zu sehen, was mit meinem Vater passiert. Ich kann ihn nicht erkennen. Meine Schwester weint und schreit. Zusammen mit anderen jungen Frauen wird sie aus der Gruppe gezerrt. Meine Mutter will sie festhalten, aber sie bekommt einen Schlag mit einem Gewehrkolben ins Gesicht. Sie blutet. Frauen helfen ihr auf die Beine und ich klammere mich an ihre Hand. Wieder müssen wir rennen. Immer wieder wird geschossen und ich sehe, wie Frauen und Kinder blutend auf die Erde fallen. Aber wir müssen laufen. Die Männer treiben uns vorwärts. Wir sind stundenlang unterwegs. Manchmal hören wir Schüsse und manchmal tauchen neue Gruppen von Milizen auf. Sie schreien, dass wir uns beeilen sollen, wenn wir unser Leben retten wollen. Immer wieder trennen sie Frauen und Mädchen von der Gruppe ab. Zwei Männer kommen auf mich zu. Sie fassen mich an den Armen und zerren mich in den nahegelegenen Wald. Dort höre ich das Schreien. Sie reißen mir die Kleider vom Leib und fallen wie Tiere über mich her. Ich verliere das Bewusstsein. Ich weiß nicht, wie lange ich dort liege. Meine Mutter findet mich. Sie zieht mir schweigend die zerrissenen Kleider an und schweigend schließen wir uns dem vorbeiziehenden Menschenzug an. Ich nehme nichts mehr wahr. Ich weiß nicht, wohin wir gehen. Wir laufen und laufen und laufen.
Ich wache in einem Lazarettzelt auf. Wir sind in einem Flüchtlingslager vor Tuzla. Mehrere tausend Menschen sind hier untergebracht. Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge an. Meine Mutter sitzt die ganze Zeit bei mir. Sie streichelt mich und weint. Es gibt keinen Platz mehr in der Stadt und das Flüchtlingslager ist überfüllt. Wir sind mehrere Wochen hier. Aber meine Mutter will nicht hier bleiben. Sie sagt, wir müssen versuchen, bis nach Deutschland zu kommen. Hier gibt es für uns keine Zukunft. Und vielleicht haben es meine Brüder und mein Vater auch bis dorthin geschafft. Wir haben auch Verwandte in Deutschland, die schon vor einigen Jahren geflohen sind. Sicher können wir bei ihnen unterkommen. Nochmals machen wir uns auf den Weg. Mithilfe von Mitarbeitern des Lagers bekommen wir einen Platz in einem Bus. Nach einigen Tagen kommen wir in Deutschland an.
Name: Liu
Alter: 29 Jahre
Heimatland: China
Geburtsort: Peking
Familienstand: ledig
Ich heiße Liu. Ich komme aus China. Als ich mein Heimatland verlassen muss, bin ich 29 Jahre alt.
Ich bin in einem Vorort von Peking aufgewachsen. Mein Vater ist Schneider und meine Familie besitzt ein kleines Geschäft. Ich habe noch einen älteren Bruder. Beide studierten wir Medizin und haben uns in Studentengruppen kritisch mit der politischen Situation in unserem Land auseinandergesetzt. Während der Demonstrationen 1989 wurde mein Bruder getötet. Ich wurde wegen der Teilnahme an mehreren gewaltlosen Kundgebungen zu 4 Jahren Gefängnis verurteilt. Nach meiner vorzeitigen Entlassung wurde ich immer wieder von der Polizei und den Behörden kontrolliert und schikaniert. Ich durfte mein Studium nicht beenden.
Liu erzählt:
Ich bin in China. Meine Mutter ist sehr krank. Der Tod meines Bruders hat ihr jeden Lebenswillen genommen. Mein Vater arbeitet immer noch als Schneider, aber das Geld langt hinten und vorne nicht. Ich wohne bei meinen Eltern, aber meistens halte ich mich bei Freunden auf. Ich würde gerne mein Studium beenden. Doch dies wird mir von den Behörden nicht erlaubt. Eine Arbeit finde ich auch nicht, da ich die notwendigen Arbeitspapiere nicht ausgestellt bekomme: Mal fehlt eine notwendige Unterlage, mal ist meine Akte verschwunden, mal der zuständige Bearbeiter nicht da.
Immer wieder werde ich kontrolliert und muss Fragen nach meiner politischen Haltung, nach meinen Freunden, nach meinen Tätigkeiten, etc. beantworten. Dies ist sehr belastend, da ich immer aufpassen muss, dass ich mich nicht in Widersprüche verwickele. Ich treffe mich heimlich mit Freunden von der Universität. Wir haben unsere Hoffnung auf eine demokratische Veränderung unserer Gesellschaft noch nicht aufgegeben. Wir versuchen, über das Internet über die Situation in China zu berichten und unsere Positionen darzustellen. Dafür müssen wir immer wieder heimlich mit unserer Technik in sichere Wohnungen und Keller umziehen. Die notwendige Soft- und Hardware zu besorgen, ist auch nicht einfach. Wir müssen sehr vorsichtig sein. Da ich immer öfter das Gefühl habe, rund um die Uhr beobachtet zu werden, ist es bald zu riskant für alle Beteiligte, wenn ich weiter Kontakt zu der Gruppe habe. Wir beschließen, dass ich für einige Zeit nicht mehr zu den Treffen kommen werde. Ich will noch ein letztes Mal dabei sein und gehe nachts zur Wohnung meines Freundes. Schon zwei Straßen vorher höre ich Lärm und Geschrei. Ich verstecke mich in einem Hausflur. Doch schon stürmen bewaffnete Sicherheitskräfte auch durch diese Straße. Alle greifbaren Menschen werden verhaftet. Auch ich werde zu Boden gestoßen und über das Pflaster gezerrt. In einem geschlossenen Wagen werde ich zusammen mit mehreren Leuten zur Wache gefahren. Meine Freunde sehe ich nicht. Zwei Tage werde ich verhört. Immer wieder die gleichen Fragen: Was wolltest du in dieser Straße. Kennst du die und die Personen. Immer wieder schlagen sie auf mich ein. Dann werde ich ohne Kommentar mit der Aufforderung entlassen, mich am nächsten Morgen wieder zu melden. Meine Eltern sind völlig außer sich, als ich nach Hause komme. Unsere Wohnung ist durchsucht worden und sie wurden von den Sicherheitskräften bedroht. Über Nachbarn haben sie gehört, dass bei der Festnahme mehrere uns bekannte Personen schwer verletzt wurden. Sie sind sicher, dass man mich nur freigelassen hat, damit sie über mich an andere Kontaktpersonen heran kommen können. Ich habe Angst davor, wieder verhaftet zu werden und entschließe mich, China zu verlassen. Auch habe ich die Hoffnung, vielleicht in Europa oder in Amerika doch noch mein Studium beenden zu können. Eine Ausreiseerlaubnis, ohne die man das Land nicht verlassen kann, zu bekommen, ist unmöglich. Und für Fluchthilfeorganisationen braucht man viel Geld. Mein Vater sagt, für eine solche Situation habe er schon vorgesorgt. Er verschwindet für drei Stunden und kommt mit Geld zurück. Er will nicht sagen, woher er das Geld hat. Aber ich weiß, dass er es sich geliehen hat und es sehr schwer sein wird, es mit all den Zinsen zurück zu bezahlen. Aber ich nehme es an.
Ein Bekannter meines Vaters hat ein Fuhrunternehmen und ist meinem Vater von früher verpflichtet. Er nimmt mich mit nach Schanghai. In Schanghai ist es eher möglich, Kontakt zu einer Organisation aufzunehmen, die mir dabei helfen kann, China zu verlassen.
Die Fahrt ist sehr anstrengend und wir müssen zweimal eine Straßenkontrolle passieren. Aber ich habe Glück und werde nicht entdeckt. In Schanghai bringt mich mein Bekannter in einer kleinen Wohnung unter. Dort bleibe ich mehrere Wochen. Ich darf die Wohnung nicht verlassen und muss mich sehr ruhig verhalten. Essen bekomme ich ab und zu vorbei gebracht. Dann bekomme ich Besuch von zwei Männern, die mit mir die Konditionen für meine Ausreise besprechen. Der Preis ist sehr hoch und das Geld reicht gerade so.
Ich muss schwören, dass ich nie etwas über den Fluchtweg und über die gesamten Umstände der Fluchthilfe erzählen werde. Wenn ich mich nicht daran halte, dann riskiere ich mein Leben und gefährde das Leben meiner Eltern.
Nach einer weiteren Woche beginnt die Flucht. Ich bin insgesamt vier Monate unterwegs. Ich reise mit Schiff, Bahn und Lastwagen. Ich halte mich in verschiedenen Ländern auf, aber ich weiß nicht in welchen. Eigentlich sollte mein Zielland Frankreich sein, aber aus Gründen, die ich nicht weiß, bin ich bis nach Deutschland gebracht worden. Ich weiß nicht, wo wir die Grenze überschritten haben. Man hat mir erklärt, wohin ich gehen muss, um einen Asylantrag zu stellen.
Name: Elvane
Alter: 24 Jahre
Heimatland: Jugoslawien (Kosovo)
Geburtsort: Priština
Familienstand: verheiratet, 1 Kind
Ich heiße Elvane und komme aus Jugoslawien, aus dem Kosovo. Ich bin 24 Jahre alt, als ich meine Heimat verlassen muss. Wir lebten in Priština. Mein Mann hatte gerade sein Englischstudium abgeschlossen und eine Stelle bekommen. Wir hatten endlich eine Wohnung in der Nähe meiner Eltern gefunden. Ich war im achten Monat schwanger. Wir freuten uns alle sehr auf das Kind. Wir haben uns nie politisch betätigt und gingen auch nicht regelmäßig in die Moschee. Dann fielen die ersten Bomben auf Jugoslawien und die „ethnische Säuberung“ unserer Stadt begann.
Elvane erzählt:
Ich bin in Jugoslawien. Die NATO hat mit den Luftangriffen begonnen. Am Abend beginnen die Serben mit dem Zusammentreiben der Menschen in unserer Stadt. Überall fallen Schüsse. Wir trauen uns nicht auf die Straße. Meine Eltern sind schon am Vormittag zu uns in die Wohnung gekommen. Wir haben ein paar Taschen gepackt. Wir verriegeln die Tür und verhalten uns ganz ruhig. Wir haben Angst. In unserer Straße wohnen fast ausschließlich Albaner. Dann hören wir laute Stimmen und Schreie im Haus. Unsere Tür wird aufgebrochen und bewaffnete Männer stürmen in die Wohnung. Sie schreien und treiben uns in den Hausflur. Ich kann gerade noch eine Tasche greifen und ich sehe, dass auch mein Mann eine Tasche mitnehmen kann. Mein Vater stürzt und ein junger Mann hält ihm das Gewehr an die Schläfe und drückt ab. Meine Mutter rennt zu ihm und ein anderer schlägt sie auf den Kopf. Ich will zu ihr, aber sie drängen uns über die Treppe nach unten. Aus der Wohnung im Erdgeschoss quillt Rauch. Sie bringen uns auf einen Platz in der Nähe des Bahnhofs. Dort sind schon viele Leute. Es regnet. Stunden um Stunden müssen wir dort stehen. Immer mehr Menschen werden auf den Platz getrieben. Ich kann nicht mehr stehen. Mein Rücken schmerzt und ich bin verzweifelt wegen meiner Eltern. Mein Mann stützt mich. Dann kommt Bewegung in die Menschenmassen. Ein Teil der Menge wird in Richtung Bahnhof getrieben. Dort steht ein Güterzug. Schwer bewaffnete Männer fragen uns nach unseren Ausweisen und nach Geld. Sie lachen und sagen, diese Zugfahrt gibt es nicht umsonst, bedankt euch bei der NATO. Sie nehmen uns unsere Ausweise ab. Dann beginnen sie wahllos jüngere und ältere Männer auszusortieren. Diese werden vom Bahnhof weggetrieben. Ich habe keine Ahnung, was sie mit ihnen vorhaben. Mein Mann ist auch bei ihnen. Mich stoßen sie in den Eisenbahnwagen. Ich beginne zu schreien und merke, wie die Wehen einsetzen. Ich gerade in Panik, immer mehr Menschen werden in den Waggon geschoben. Es gibt nicht genug Platz. Dann wird die Tür geschlossen und es ist total dunkel. Nach einiger Zeit fährt der Zug los. Es gibt kaum Raum sich zu bewegen. Wir sind stundenlang unterwegs. Manchmal halten wir an. Ich weiß nicht, wo wir sind und ich weiß nicht wie lange wir schon unterwegs sind. Ich bringe meine Tochter zur Welt.
Nach unendlich langer Zeit hält der Zug und wir müssen aussteigen. Nach einem langen Fußmarsch erreichen wir die Grenze zu Makedonien. Dort müssen wir warten und warten. Wieder regnet es. Endlich dürfen wir die Grenze passieren.
In einem notdürftig errichteten Flüchtlingslager werden wir versorgt. Meine Tochter lebt, aber sie ist sehr schwach. Ich bekomme einen Schlafplatz, Decken und Tücher für das Kind. Es gibt wenig zu essen und keine Medikamente. Ich habe wahnsinnige Schmerzen, aber ich kann die Kleine stillen. Andere Frauen helfen mir. Sie besorgen Wasser und kümmern sich um mich. Ohne sie hätte ich nicht überlebt. Ich versuche nicht an meinen Mann und an meine Eltern zu denken. Ich denke nur an das Kind und daran, dass ich leben muss. Ich muss!
Nach endlos langen Tagen, nach dem Ausfüllen von Formularen und vielem Hin und Her werde ich zusammen mit anderen aus dem Lager mit einem Bus nach Skopje gebracht. Von dort aus fliegen wir nach Deutschland.
Auszug aus den Materialien zur Ausstellung „Unerwünscht – Eine Reise wie keine andere“ erstellt von Heidrun Müller 1999 nach aktuellen Fallberichten.
© Netzfrau Heidrun Müller