„Verlorene“ Kindheit – wenn kleine Kinder zu Pflegekräften werden

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Sie putzen, waschen, kochen und betreuen:

Tausende von Kinder und Jugendliche in Deutschland pflegen ihre chronisch kranken Eltern.

Krebs, MS, Depression – Wenn Eltern chronisch krank sind, können sie oft Vieles nicht mehr selbst erledigen. Hier springen nicht selten die Kinder ein und füllen die entstandenen Lücken. Sie helfen im Haushalt, gehen einkaufen, kümmern sich um jüngere Geschwister und sind auch in die Pflege der Eltern eingebunden. 

Mehr als 200 000 Kinder in Deutschland sind betroffen. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein. Viele Familien nehmen aus Scham und aus Angst vor Eingriffen von Außen kaum Hilfe in Anspruch. Selbst wenn ein Pflegedienst in die Wohnung kommt, können damit höchstens 1,5 Stunden am Tag abgedeckt werden. In der restlichen Zeit übernehmen die Kinder die Verantwortung.

Hier seien aber auch die bürokratischen Hürden einer Hilfeleistung durch die zuständigen Stellen erwähnt, aber dazu später mehr.

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es genau diesen erschreckenden Zustand – Kinder ersetzten die Pflegekräfte.

Darüber, wie viele Kinder, teils im Grundschulalter, ihre kranken Eltern pflegen, darüber gibt es in Deutschland keine eindeutigen Zahlen. Österreich dagegen hat jetzt eine Zahl ermittelt:

42  700 Kinder und Jugendliche pflegen ihre Angehörigen.

Am 18. Mai 2011 brachten die österreichischen Abgeordneten Öllinger, Windbüchler-Souschill und andere auf Initiative der Interessengemeinschaft pflegender Angehöriger den Entschließungsantrag ein, dem im Parlament einstimmig zugestimmt wurde. Darin ging man von einer geschätzten Zahl von 25 000 Kindern und Jugendlichen aus, die sich um ihre kranken Eltern oder andere nahe Verwandte kümmern. Daraufhin von wurde von Bundesminister Hundstorfer eine Studie zur Erhebung des Bedarfs und von Maßnahmen in Auftrag gegeben.
Die Studie wurde Ende 2012 abgeschlossen und steht auf der Website des BM für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz   und zum Downloaden hier.

Welche Aufgaben übernehmen die Kinder?

Das geht von Hilfen im Haushalt über das Betreuen kleinerer Geschwister bis zur Rund-um-Pflege der Eltern mit Anziehen, Duschen, Wickeln und Hilfe beim Kathetern. Besonders bei alleinerziehenden pflegebedürftigen Müttern. Häufig nehmen chronische Krankheiten einen schleichenden Verlauf und machen immer mehr Mithilfe der Kinder nötig. Die nehmen das oft nicht wahr und wollen „der Mama helfen“. Kurz gesagt: Die Kinder füllen die entstehenden Lücken und stehen stets in Bereitschaft.

Auszüge aus der Studie:

Geschwisterhilfe

Pflegende Kinder haben im Schnitt 1,6 Geschwister. Für diese bereiten sie das Essen zu, passen auf sie auf, machen gemeinsam Hausübungen, bringen sie ins Bett und bringen sie in die Schule oder in den Kindergarten. Vor allem bereiten pflegende Kinder das Essen für ihre Geschwister deutlich öfter zu als nicht pflegende Kinder, worin der Unterschied zu Geschwisterhilfe, wie sie in fast allen Familien vorzufinden ist, deutlich wird.

Auswirkungen kindlicher Pflege

Der Status pflegendes Kind zeigt Auswirkungen in vielen Bereichen. Vor allem im Bereich der körperlichen Auswirkungen zeigt sich, dass pflegende Kinder deutlich öfter angeben, unter Müdigkeit, Schlafproblemen, Rückenschmerzen und Kopfschmerzen zu leiden. Deutliche Unterschiede zeigen sich auch bei den Merkmalen in Bezug auf die psychische Verfassung der Kinder. Den Aussagen „ich mache mir oft Sorgen“ und „ich bin oft traurig“ stimmen pflegende Kinder deutlich öfter zu, als nicht pflegende Kinder. Dies legt den Schluss nahe, dass es pflegenden Kindern schwer fällt, eine unbeschwerte Kindheit zu erleben. Pflegende Kinder fühlen sich gegenüber nicht pflegenden Kindern erwachsener, was deutlich macht, dass Auswirkungen nicht ausschließlich negativ bewertet werden können

„Verlorene“ Kindheit

Oft sind sie sozial isoliert, haben kaum Freunde, gehen in keine Vereine, selten raus zum Spielen. Sie haben schlicht keine Kindheit. Außerdem plagen sie Verlustängste. Kleine Kinder glauben, sie sind Schuld, wenn es den Eltern schlechter geht. Pubertierende sorgen sich, sie könnten die Krankheit geerbt haben. Häufig verringern sich ihre Bildungschancen, was für das Erwachsenenleben auch wirtschaftliche Folgen haben kann.

Selbst an das Jugendamt wenden sich viele Familien trotz größter Not nicht. Die Angst, das Amt könne ihnen die Kinder wegnehmen, ist noch größer. Dass diese Furcht nicht unbegründet ist, kann Rechtsanwalt Alexander Frey, Mitglied des Münchner Forums Pflege Aktuell sowie der Münchner Vereinigung für Integrationsförderung (VIF), nur bestätigen:

„Wir erleben immer wieder, dass das Jugendamt eine Kindeswohlgefährdung attestiert und die Kinder in Pflegefamilien oder Heime steckt. Doch muss man differenzieren, es gibt natürlich auch Sachbearbeiter, die sehr im Sinne der Familien helfen.“ Und in deren Sinne sei es immer, als Familie zusammenzubleiben, wie Sabine Metzing in den Interviews mit 82 Betroffenen erfahren hat: „Lieber fordern die Eltern ihre Kinder noch stärker und auch die tragen die Last der Pflege lieber, als von ihren Eltern getrennt zu werden.“

Dabei kann die Pflege der chronisch kranken oder behinderten Eltern Ausmaße annehmen, die selbst einen Erwachsenen komplett überfordern würden.

Die psychische Belastung

Zu den größten psychischen Belastungen zählen:

  • starke Verlustängste sowie das Gefühl,
  • die Krankheitsschübe der Eltern durch eigenes Fehlverhalten verursacht zu haben
  • die Angst, die Krankheit geerbt zu haben.

Häufig brauchen die Kinder als Erwachsene eine Psychotherapie. In der akuten Phase der Pflege sei den wenigsten bewusst, wie belastet sie sind.

Schleichend nimmt es zu, wachsen Kinder in diese Situation hinein, weil sich die Gesundheit ihrer Eltern langsam verschlechtert. Bis die minderjährigen Pfleger so unabkömmlich sind, dass sie sich der Verantwortung nicht mehr entziehen können. Der Druck auf das Kind wächst bis zur Überlastung, so dass das Kind durch diese Überforderung erkrankt.

Bei der Recherche fand ich einen Artikel aus der Zeit.de vom 05. 11. 2009, die sich genau mit dem Thema befasst. Ein Beispiel aus diesem Artikel:

Paust ist selbst eine Betroffene. Die Mutter eines achtjährigen Sohnes leidet an multipler Sklerose. Sie ist weitgehend auf Hilfe angewiesen und sitzt seit drei Jahren im Rollstuhl. Als sie damals begann, nach finanzieller Unterstützung für sich und ihren Sohn zu suchen, stellte sie fest, dass ihre Lebenssituation für den Gesetzgeber praktisch nicht existiert.

Zwar haben Menschen mit Behinderungen einen Rechtsanspruch auf Assistenz. Sie können daher bei Krankenkasse, Pflegekasse und Sozialamt ein persönliches Budget beantragen, um ihre Pfleger selbst zu bezahlen. Doch eine dauerhafte finanzielle Unterstützung für die Betreuung von Kindern ist schwierig zu erstreiten. Paust konnte dem Jugendamt nur unter Berufung auf das Jugendhilfegesetz (»Betreuung und Versorgung des Kindes in Notsituationen«) eine Elternassistenz für ihren Sohn abringen.

Eine andre betroffene Mutter berichtete: „Ich habe eine vier Jahre alte Tochter, die mir jetzt schon beim Ausziehen hilft. Ich will das nicht, aber ich weiß manchmal nicht, was ich machen soll. Ich habe Pflegestufe zwei, und das Pflegegeld reicht einfach nicht aus.« Eine andere chronisch kranke Mutter ergänzt: »Als ich das Jugendamt bat, mir beim Transport meiner Kinder zum Kindergarten zu helfen, meinten die, die Lütten seien doch nicht krank oder behindert. Die Kinder helfen mir mittlerweile sogar schon beim Waschen. Ich bin sehr verzweifelt darüber.“

Sie sind noch Kinder und  doch schon KrankenpflegerInnen, ehrenamtlich sozusagen, in der eigenen Familie.  Während wir diesen Artikel schreiben, kümmert sich gerade ein Kind um die erkrankte Mutter oder um den vielleicht um den im Rollstuhl sitzenden Vater. Sie  baden, kochen, putzen oder geben ihren Eltern Medikamente. Danach gehen sie nach getaner Arbeit zur Schule und im Gepäck haben sie die Sorgen um das Elternteil.

Die o.g. Studie zeigt auch Lösungen auf:

  •  · Bewusstseinsbildung der Bevölkerung, einschließlich der betroffenen Kinder und
  •    Vermeiden von Stigmatisierung kindlicher Pflege durch mediale Aufklärungs- und
  •    Informationskampagnen
  • · Recht auf Identifizierung betroffener pflegender Kinder in ihrer unmittelbaren Umgebung
  •    durch lebensweltnahe Kontaktpersonen an Schulen oder durch Gesundheitsprofessionen
  • · Kindgerechte Aufklärung und Information über die Krankheit um Ängste und Unsicherheit zu nehmen
  • · Pflegerische Unterstützung im Alltag durch aufsuchende, niederschwellige Hilfsangebote um zu unterstützen,
  •   anzuleiten und  zu entlasten durch Case Management oder Family Health
  •   Nurse Ansatz, durch eine Anlaufstelle für Notfälle
  •  Entwicklung und Aufbau von kinder- und familienorientierten Hilfsprogrammen um mit
  •  Gleichgesinnten und mit Erwachsenen reden zu können, um nur Kind sein dürfen, die
  •  beworben werden, wirksam und evidenzbasiert, sowie längerfristig finanziert sind

 Die Studie bekräftigt auch, dass die Familie eine tragende Säule in der häuslichen Pflege ist.

Die Aufmerksamkeit seitens der Sozialpolitik und Forschung richtet sich dabei vor allem auf erwachsene pflegende Angehörige, sind sie es doch, die einen Großteil der Pflege für kranke bzw. pflegebedürftige Familienmitglieder zu Hause übernehmen. Diese Ausschließlichkeit zeigt nicht, dass auch Kinder und Jugendliche für kranke Familienmitglieder pflegerische Verantwortung übernehmen.

Österreich hat es erkannt, denn dieses Thema betrifft uns alle – deswegen braucht es auch dringend öffentliche Gelder, die laut Ankündigung des Sozialministeriums in die Entlastung der Kinder und in einen Ausbau dieser Dienstleistungen investieren wollen.

Doch wie sieht es in den anderen Ländern der EU aus, zum Beispiel Deutschland?

Das Plus im Gesundheitswesen wird immer dicker. Das gesamte Gesundheitssystem konnte Ende vergangenen Jahres einen Überschuss und Reserven von bis zu 28 Milliarden Euro vorweisen.

Dieser Kinderarbeit wird kaum Aufmerksamkeit geschenkt, nicht zuletzt, weil diese Gruppe der sogenannten „Young Carers“ beinahe unsichtbar und nur schwer zugänglich ist.

Pflegende Kinder sind eine Bankrotterklärung der Pflegepolitik!

Schnellstmöglich muss seitens der Regierungen geholfen werden, denn eine „verlorene Kindheit“ ist in unserem Gesundheitssystem nicht mehr hinnehmbar.

Auch wir können helfen, jeder von uns kann die Augen offen halten und solchen Kindern und Jugendlichen ein wenig unter die Arme greifen bzw. Behörden um Beistand bitten.

Hilfsangebote für Young Carers

Österreich 

Betroffene Kinder und Jugendliche, aber auch Eltern und PädagogInnen können sich an folgende Stellen wenden:

• Superhands – Internetplattform für Kinder und Jugendliche, die zuhause ein Familienmitglied pflegen

• 147 Rat auf Draht – Notruf für Kinder und Jugendliche und deren Bezugspersonen

• Verrückte Kindheit – Das Online-Portal – Plattform für Jugendliche und junge Erwachsene, deren Eltern psychisch erkrankt sind

• KIPKE – Beratung von Kindern mit psychisch kranken Eltern

• JOJO Kindheit im Schatten – Hilfe für Kinder psychisch kranker Eltern

• Mama/Papa hat Krebs – Österreichische Krebshilfe Wien

Deutschland 

young carers  Internetseite für Kinder pflegebedürftiger Eltern in Bad Bramstedt und Umgebung

Kinder kranker Eltern  Diese Seiten wurden extra für Kinder und Jugendliche ins Web gestellt, die mit einem kranken Angehörigen zusammenleben

 „Kinder psychisch erkrankter Eltern“

International:

Young carers 

Netzfrau  Lisa Natterer

dazu auch: Wir fordern: Menschenwürdiger Umgang mit ‪Pflegebedürftigen, ‪Kranken und‪ Pflegekräften

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