Da in diesen Wochen wieder einmal die Dioxin-Debatte entflammte, möchte ich einige Zeilen zur Fragwürdigkeit von festgesetzten Grenzwerten schreiben.
Vom Bundesgesundheitsamt in Deutschland wurde 1983 der MIC-Wert (1) für Pentachlorphenol (PCP) von 60 µg/m³ auf 5 µg/m³ Raumluft reduziert. Seit dem 1. 10. 1986 ist PCP in Aufenthaltsräumen verboten. Das gleiche gilt für Lindan, Formaldehyd, Polychlorierte Biphenyle (PCB) usw. – die Liste lässt sich beliebig fortführen.
Beispielsweise wurde in Deutschland bereits 1936 Asbestose, ein durch Asbest verursachter Lungenkrebs, als Berufskrankheit anerkannt. Spätestens seit diesem Zeitpunkt müsste den Verantwortlichen die starke krebserzeugende Wirkung bekannt sein. Trotzdem wurde Asbest erfolgreich in Deutschland bis in die 70er Jahre vertrieben und in nahezu jedem Gebäude kamen Asbestprodukte zum Einsatz. Nach 1981 wurden Verwendungsbeschränkungen erlassen, ohne jedoch dieses gefährliche Material gänzlich zu verbieten.(2)
Grenzwerte – Messlatte der Industrie
«Grenzwerte» werden nach der Messlatte der Industrie festgesetzt, die Schädlichkeiten über Jahre negiert, bis schließlich nach und nach die Werte heruntergesetzt werden.
Die Grenzwerte für Kleinkinder, deren Immunsystem noch nicht ausgebildet ist, dürften nur etwa 1/100 betragen! Dass dies nicht berücksichtigt wird, ist ein Verbrechen an unseren Kindern. Auch werden alte, schwache und kranke Menschen bei der Bestimmung von Grenzwerten nicht berücksichtigt.
Wir verfügen heute über Daten zu Raucher- oder Hochwasserschäden, Straßenverkehrsopfern etc. Wer informiert zu statistischen Werten der Krankheiten, die durch Chemikalien verursacht wurden?
An dieser Stelle möchte ich den Kieler Toxikologen Prof. Dr. Ottmar Wassermann zitieren. Sein Kommentar ist übrigens von 1986 und 1996 u. a. in meinem ersten Buch veröffentlicht:
«(…) Die ubiquitäre Verwendung von Chemikalien in Wissenschaft und Technik, Industrie und Landwirtschaft, Gewerbe und Haushalt, ihre lokale, überregionale und globale Verbreitung in Form von Produkten, Verunreinigungen und Produktionsabfällen aus diesen Bereichen, die dabei ablaufenden chemischen Umwandlungen dieser Substanzen im Stoffwechsel lebender Organismen, im Wasser, im Boden oder in der Luft in vielfältige, nicht selten noch gefährlichere Folgeprodukte lassen bereits das breite Tätigkeitsfeld umwelttoxikologischer Forschung und ihre Bedeutung für die Gesellschaft und für die gesamte Biosphäre erahnen. Denn jede dieser vielen Millionen von chemischen Verbindungen kann toxisch wirken auf Lebewesen, die sich den durch Bevölkerungsexplosion, industrielle Expansion, Ressourcen-Ausbeutung, Schadstoffeintrag (Umweltbelastung) rapide enger werdenden Lebensraum der hauchdünnen Biosphäre auf dem Planeten Erde teilen. Kenntnisse über dieses Schädigungspotential der zahllosen Einzelstoffe sind für die allermeisten Mikroorganismen, Pflanzen- und Tierarten und für den Menschen äußerst dürftig oder fehlen gänzlich. Völlig im Dunkeln liegt das erhebliche Risiko der Kombinationseffekte, deren Möglichkeiten bei der nicht abschätzbar großen Zahl chemischer Stoffe und ihrer Folgeprodukte und bei der großen Zahl der Arten und ihrer unterschiedlich empfindlichen Individuen beliebig zahlreich sein können. Nur unter den standardisierten, aber wirklichkeitsfremden Bedingungen eines Laboratoriums werden die Wirkungen einer einzelnen Chemikalie z. B. auf einen einzelnen Organismus, ein Versuchstier oder eine freiwillige Versuchsperson untersucht. Bereits die wenigen bisher bekannten Kombinationseffekte mahnen zu größter Vorsicht. Wie sich Chemikalien in der Umwelt verhalten, ob sie sich in kompliziert vernetzten Nahrungsketten anreichern, den Menschen schädigen, Tier- und Pflanzenarten ausrotten, die unzähligen Symbioseprozesse oder Bodenlebewesen und damit die Bodenqualität vernichten, hat Chemikalien-Produzenten nie besonders interessiert, obwohl solche tiefgreifenden Schädigungen seit über 100 Jahren vorausgesagt wurden, seit über 30 Jahren bekannt waren und zahlenmäßig inzwischen exponentiell zugenommen haben.»(3)
Eine täglich wachsende Zahl von Menschen erkrankt und leidet am MCS-Syndrom (Chemical Sensitivity-Syndrom), ein Krankheitsbild, das umweltbedingt ist und sich in einer Überempfindlichkeit gegen Chemikalien äußert.
Es besteht augenblicklich noch viel Forschungsbedarf, um die Zusammenhänge der ubiquitär verbreiteten chemischen Substanzen und entsprechenden krankhaften Reaktionen nachzuweisen.
© 2013 Netzfrau Birgitt Becker
Quellen:
[1] MIC = Maximale Immissionskonzentrationswerte nach VDI 2306. Die maximale Immissionskonzentration für die Beurteilung der Qualität der Außenluft wird im allgemeinen mit 1/20 des MAK-Wertes berechnet. Hierbei ist zu unterscheiden zwischen MIK (D) = Dauerbelastungen und MIK (K) = Kurzzeitbelastungen. Der Hauptausschuss III der VDI hat auf seiner Sitzung vom 16.10.85 festgestellt, dass die MIK-Werte nicht nur für eine Außenluft-Beurteilung gelten, sondern auch für die Qualität von Innenräumen zugrunde gelegt werden sollen.
(2) http://www.gruene-bundestag.de/?id=404767
[3] Wassermann, O. und Carsten, A.: Die gesellschaftspolitische Relevanz der Umwelttoxikologie, Berlin: IIUG 1986, ebenfalls in Otmar Wassermann et al. Die schleichende Vergiftung. Die Grenzen der Belastbarkeit sind erreicht, Fischer-Verlag, Frankfurt (1990)