Um diese Frage zu beantworten, müssen wir zuerst einmal die lateinamerikanische Geschichte analysieren und die Aktualität in diesen geschichtlichen Kontext setzen.
Lateinamerika war seit den Zeiten der Kolonisierung eine unsagbare Quelle von Rohstoffen für die Kolonisationsmächte und trug somit weitgehend zu den Entwicklungen derjenigen Länder bei, die sich heutzutage “Erste Weltländer” nennen, wie die Weltmacht USA oder auch einige europäische Länder.
War und ist es so, dass es den Eroberern so leicht war, sich das Gold der präkolumbianischen Kulturen zu “nehmen”, dass sie sich daran gewöhnten, einfach das Nötige weiter zu “nehmen”, was sie für die Entwicklungen ihrer mächtigsten Länder auch heute noch brauchen?
Wahr ist, dass die lateinamerikanischen Länder sich im Laufe der Zeit nicht vor den Einflüssen und der Behandlung von außen zu schützen wussten und konnten.
Eine der wichtigsten negativen Eigenschaften, die wir von den externen Einflüssen erbten, ist der Rassismus gegenüber unseren indigenen Völkern durch die Eroberer in erster Instanz und dann noch durch das Klassenbewusstsein (Klassismus) innerhalb der Mischlingsbevölkerung Lateinamerikas.
Woran liegt dies? Einer der Gründe liegt ohne Frage darin, dass die mit von außen gesteuerten Interessen verbundene Oberklasse von ausgewählten Gruppen geformt wurde und auch heute noch so besteht, und die sich praktisch seit den Zeiten der Kolonisation in wirtschaftlichen und politischen Machtstellungen befindet.
Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass jeder, der aufsteigen möchte, auf diese oder jene Weise einen Kontakt zu diesen Gruppen herstellen muss, um mit deren Gutheißen zu rechnen. Um “jemand zu sein” in Lateinamerika, ist es nicht wirklich nötig, einen traditionsreichen Nachnamen zu besitzen oder hellhäutig zu sein, aber helfen tut es ganz sicherlich!
Wenn wir nun den letzten großen Ansturm des nordamerikanischen Imperialismus in den 1970er-Jahren in Lateinamerika als Einführungsphase sehen, als Versuchszweck, den Neoliberalismus in denjenigen Ländern einzuführen, die unter einer Militärdiktatur standen, dann können wir das Rezept verstehen, welches die USA unter anderen auch heute noch über ihre Geheimdienste benutzen und welches sich von Land zu Land nicht viel unterscheidet.
Man nehme zuerst einmal einen fortschrittlichen, linksorienterten, lateinamerikanischen Staat, welcher nämlich genau der ist, der sich den ausländischen Interessen entgegensetzt, man entwickle eine starke Medienkampagne gegen die Regierung, die man abändern will (die Medien sind in ihrer Mehrzahl gelenkt und genau von denjenigen mächtigen Oberklassegruppen kontrolliert) und man überzeuge den “gehobenen Mittelstand”, dass die Situation jeden Tag unerträglicher ist (dafür rechnet man immer mit finanzieller Unterstützung aus dem Ausland, meist USA). Plötzlich kommt es zu Nahrungsmittelknappheit und auch zu Knappheit der anderen wichtigen Waren, das Aufkommen des Schwarzmarktes wird begünstigt, es entstehen Warteschlangen vor den Läden, innerstaatliche Kriminalität wächst durch geplante und spezifische Sabotageaktionen, sodass sich ein inneres Chaosklima bildet und die Medien so eine Terrorstimmung in der Bevölkerung schaffen können.
In dieser Spirale von Unsicherheit kommt es zwischen denjenigen, die das System verteidigen und denjenigen, die es ändern wollen, zu Gewalttätigkeiten.
Normalerweise stellt man diejenigen, die das System ändern wollen, als den höheren Mittelstand vor, und da man dort ein fruchtbares Klima für den Klassismus findet, lässt sich ein Teil der Bevölkerung von der Freiheitseuphorie mitziehen, auch wenn sie keine wirklichen Kenntnisse davon haben, was eigentlich geändert werden soll. Das eigentliche “Volk” hat hier wenig aktive Teilnahme.
Man beliefert radikale Gruppen, die die “Befreiung” der aktuellen Staatsform suchen, die ab sofort als autoritär eingestuft wird, mit Waffen. Dafür treten besorgte Nationen auf, die sich um die wenige zivile Freiheit sorgen und die durch Söldner oder geregelte Streitkräfte diese radikalen Gruppen unterstützen und das Bild ist fertig.
Von dem Moment an ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis dass ein Land, so wie es zum Beispiel Chile war, in ein Stadium des “Übergangs” fällt und den “richtigen” Weg aufgreift, der von den wirtschaftlichen Interessen derjenigen Mächten festgelegt wird, die am Staatsstreich beteiligt sind.
Was wir heute in Venezuela sehen, ist einmal mehr dasselbe Rezept, dass in den siebziger Jahren in Lateinamerika angewendet wurde und welches, als Konsequenz, eine große Anzahl an Ländern unter Militärdiktatur hatte.
In Chile waren es Faktoren wie die Nationalisierung des Kupfers und das politische Beispiel des Sozialismus, der durch eine demokratische Wahl eingetroffen war. Das hatte den Unwillen der USA ausgelöst und damit auch die Idee ein neues wirtschaftliches Konzept zu installieren, welches sich nachträglich Neoliberalismus nannte.
Zum Beispiel Venezuela können wir sagen, dass die USA Einmischungen schon zu Zeiten von Chávez geplanten. Jedoch sind diese Pläne zum größten Teil missglückt. Man muss sich daran erinnern, dass Chávez militärische Erziehung genoss und Kenntnisse besaß, die ihm sicherlich nützlich waren, die Machenschaften gegen ihn zu erkennen und frühzeitig Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Der aktuelle Präsident Maduro rechnet nicht mit dieser Erfahrung und dies hat wohl mit dazu beigetragen, dass sich die “Opposition” auf dem Vormarsch befindet. Und die venezolanische Gesellschaft mit ihren Interessengruppen macht da nicht den Unterschied zu anderen lateinamerikanischen Ländern. Es sind diese Interessen und Machtgruppen, die nicht mehr bereit sind, noch mehr Boden zu verlieren, was ihre Einflüsse und wirtschaftliche Macht anbetrifft.
Venezuela rechnet mit den größten Erdöl- und Gasvorkommen der Welt und befindet sich geografisch günstig nahe an den USA. Im mittleren Osten gibt es nicht mehr viel, wo sie einfallen können und die Situation dort ist komplizierter als erwartet. Vielleicht ist der Moment gekommen, eine Strategie zur Kontrolle des Erdöls in kürzerer Entfernung zu entwickeln, um Kosten zu sparen und zu einem anderen Zeitpunkt die Strategie in Ländern wie Syrien und Iran wieder mit neuen finanziellen Mitteln aufzunehmen. Nämlich mit den neuen finanziellen Mitteln, die ein Land wie Venezuela einbringen kann.
Ich als Chilene wundere mich nicht über das, was heute in Venezuela passiert. Ich erlebte bereits am eigenen Leib die Vorphase eines Staatsstreichs, das darauffolgende Exil in Deutschland und die aktuelle “Demokratie”.
Was hat Chile mit der “Befreiung” des Marxismus von Allende gewonnen?
1. Die transnationalen Unternehmen haben den chilenischen Kupfer zurückgewonnen.
2. Alle wichtigen Staatsunternehmen wurden privatisiert, viele blieben in europäischen, hauptsächlich spanischen, und natürlich nordamerikanischen Händen.
3. Die Schulbildung wurde privatisiert, das Gesundheitssystem, die Renten. So bildete sich eine gespaltene Gesellschaft, in der der Unterschied zwischen Arm und Reich größer ist als nie zuvor.
4. Private Banken wurden und werden mit Staatsgeldern finanziert, wobei der Staat die Kosten dafür mit öffentlichen Geldern deckt.
5. Wir besitzen eine politische Verfassung, die keine wirklichen Änderungen am politisch/wirtschaftlichen Neoliberalsystem erlaubt und die uns die Militärregierung gebracht hat.
Sicherlich wird man versuchen, in Venezuela eine ähnliche Gesellschaft zu implementieren. Führt dies zu guten oder zu schlechten Ergebnissen? Das ist von demjenigen abhängig, den man fragt … Für die Oligarchie wird es sehr gut sein. Und natürlich auch für die Interessen der transnationalen Unternehmen.
Für die Bevölkerung, den kleinen Mann? Das hängt von der Größe seiner jeweiligen Brieftasche ab.
Falls Präsident Maduro mit seiner Dialogpolitik weitermacht und versucht, die Gewalt mit Flicken und Teilmaßnahmen zu zügeln, wird er wahrscheinlich die nächsten Wahlen wegen der allgemeinen Unzufriedenheit verlieren. Oder die Opposition geht vielleicht dieses Risiko nicht ein und erzeugt einen Staatsstreich.
Falls Maduro andererseits mit scharfen Mitteln durchgreifen sollte, würde dies als diktatorische Regierungsform angesehen und sicherlich als Antwort darauf eine externe Einmischung folgen. Somit ist die Situation in Venezuela äußerst komplex und unschlüssig.
Meiner Meinung nach müssten der Weltbevölkerung diese Umstände bewusst gemacht werden und im besonderen müsste die Bevölkerung der sogenannten Erste Welt Länder sich mit Ländern wie Venezuela solidarisieren, damit weitere Schäden und sogar Morde wegen rein wirtschaftlicher und Machtinteressen nicht weiter erlaubt werden.
Wir müssen verstehen, dass die reichen Nationen nicht weiter auf Kosten des Leids und der Unterdrückung armer und schwacher Länder exisitieren können. Wir müssen den Handelsmissbrauch stoppen, den die mächtigen Nationen auf Länder wie Venezuela ausüben.
Was heute in Venezuela passiert, könnte bald auch in Ecuador, Argentinien, Brasilien und anderen Ländern passieren!
Alejandro Ulloa, Chile übersetzt von seiner Ehefrau Netzfrau Birgit Steinmeyer
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