In ihrem Bericht „Geschlechtliche Gleichstellung und Entwicklung“ schätzt die Weltbank, dass während der letzten beiden Jahrhunderte jedes Jahr etwa 250 000 Mädchen wegen ihres Geschlechts getötet wurden. Das Ausmaß der Gewalt gegen weibliche Foeten und Säuglinge zeigt, wie ausgeprägt die Vorurteile gegen Frauen sind und warum sich Frauen nur in Sicherheit wähnen können, wenn Indien in sich geht und sich ändert.
In den nächsten Wochen wird es wieder viele Diskussionen zwischen Indiens meist männlichen Politikern zum Thema Sicherheit geben. Aber kaum jemand wird fragen, ob ein Land sicher ist, wenn die Hälfte seiner Bürger in wachsender Angst leben muss, nicht wegen einer Bedrohung durch Terroristen oder feindliche Soldaten, sondern durch die Gesellschaft, in die hinein sie geboren wurden. Indien scheint zu vergessen, dass die Sicherheit des Volkes auch Sicherheit für die 48 Prozent der weiblichen Bevölkerung beinhalten muss. Indien muss sich dringend mit den Bedrohungen für diese Bevölkerungsgruppe auseinandersetzen, die von Diskriminierung bis hin zur Gewalt reichen.
Es beginnt mit den Massentötungen weiblicher Föten
Ergänzung der Redaktion: Die oben erwähnte Zahl 250 000 bezieht sich tatsächlich auf die lebend geborenen Mädchen. Aber die Gewalt gegen das weibliche Geschlecht in Indien beginnt schon vor der Geburt. Ursprünglich wurde von einer Million selektiv abgetriebenen Föten pro Jahr ausgegangen. Aber die prenatale Technologie schreitet weiter voran und hochmoderne Ultraschallgeräte sind immer weiter verbreitet in Indien. Neuere Schätzungen gehen von 2-5 Millonen selektiv abgetriebenen weiblichen Föten pro Jahr aus.
In Ländern, in denen die Sterblichkeit von Säuglingen und Kindern ausschließlich biologisch gesteuert ist, sterben weniger Mädchen als Jungen. Aber die dritte Erhebung über Nationale Familiengesundheit (NFHS3) ergab, dass die postneonatale Sterblichkeitsrate für indische Mädchen bei 21/1000 liegt, im Vergleich zu 15/1000 bei Jungen. In der Altersgruppe von einem bis vier Jahre liegt die Kindersterblichkeitsrate für Mädchen bei 23/1000, also 61% höher als für Jungen, wo sie bei 14/1000 liegt. Dem Bericht der Weltbank zufolge verlor Indien dadurch alleine in 2008 weitere 250 000 Mädchen.
Diese Zahlen sind eine Schande für die indische Gesellschaft! Dieses systematische Massaker kann nur geschehen, weil die Gesellschaft es akzeptiert und die Regierung sich taub und blind stellt. §§ 312 bis 317 des indischen Strafgesetzbuchs sehen Strafen vor für das absichtliche Verursachen von Fehlgeburten, das Verletzen ungeborener Kinder, die Verhinderung der Geburt eines Kindes oder das Herbeiführen seines Todes nach der Geburt sowie für das Aussetzen eines Kindes unter 12 Jahren. Was denken Sie, wie viele strafrechtliche Verfolgungen hätte es in den letzten 20 Jahren auf Grund dieser Gesetze geben müssen? Es hätten 10 Millionen sein müssen!
Fest verwurzelte Vorurteile
Das Ausmaß der Gewalt gegen Mädchen als Fötus und Säugling zeigt, wie tief in Indien die Voreingenommenheit gegen Frauen sitzt und warum Frauen nur sicher sein werden, wenn Indien als Nation einsichtig ist und sich ändert. Dies ist bislang nicht geschehen, obwohl bereits die Volkszählung von 2011 zeigte, dass der Anteil der weiblichen 0-6-jährigen seit dem letzten Zensus von 2001 in 27 Staaten gesunken war.
Millionen der Mädchen, die man leben lässt, werden schlechter ernährt und ausgebildet als ihre Brüder. Der United Nation’s Human Development Bericht von 2013 berechnet, dass 42,5% der indischen Kinder an Unterernährung leiden (im Vergleich zu 2,8% in China). Die dritte Erhebung über Nationale Familiengesundheit ergab, dass wenn Mütter unterernährt sind, 54% ihrer Kinder verkümmert sind und 25% umkommen. Je gebildeter die Mütter sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder verkümmern oder umkommen.
Durch die Art und Weise, wie die indische Gesellschaft mit kleinen Mädchen umgeht, verinnerlichen ihre Brüder, dass ihre Bedürfnisse – als Männer – gegenüber denen ihrer Schwestern Vorrang haben. Was dabei herauskommt, ist die Sozialisierung von Gewalt gegen Frauen.
Es gibt keine Schätzungen zum Ausmaß körperlicher Gewalt gegen Mädchen im Kindesalter, aber man darf getrost davon ausgehen, dass es beträchtlich ist.
2007 veröffentlichte das indische Ministerium für Frauen- und Kindesentwicklung eine Nationale Studie über Kindesmissbrauch, die belegt, dass 53% der befragten Kinder eine oder mehrere Formen von sexuellem Missbrauch erlitten. Es wäre gefährlich, von dieser begrenzten Studie abzuleiten, dass mehr als die Hälfte der indischen Kinder unter sexuellen Missbrauch zu leiden haben, aber es ist eindeutig viel weiter verbreitet als erwartet. Besorgniserregend ist, dass die meisten der betroffenen Kinder berichteten, dass der Übergriff durch jemanden erfolgte, den sie kannten – oft durch einen nahen Verwandten.
Daten des National Crime Records Bureau (NCRB) bestätigen, dass sich dieses Muster fortsetzt, wenn das Mädchen zur Frau wird. Im Jahr 2012 gab es 24 923 registrierte Vergewaltigungsfälle. In 98% der Fälle kannte das Opfer den oder die Täter – die logische Folge davon, dass Jungen in dem Glauben aufwachsen, Frauen existierten nur, um die Bedürfnisse der Männer zu befriedigen. Da das NCRB nur gemeldete Fälle registrieren kann, sind die angegebenen Daten nur die Spitze des Eisbergs dieser Verbrechen.
Die indische Gesellschaft ist nach wie vor resistent gegen Veränderungen. Die NFHS3 ermittelte, dass das durchschnittliche Hochzeitsalter immer noch gerade über 16 Jahren liegt und sieht darin einen Indikator für den geringen Stellenwert der Frauen. Außerdem führe dieser Umstand zu einer Schwächung der Frau und erhöhe das Risiko nachteiliger Auswirkungen auf Fortpflanzung und Gesundheit. Es gibt ausreichend Datenmaterial, um zu belegen, wie nachteilig diese sind.
Frauen, vor allem arme Frauen, in Indien sind bei Geburten extrem gefährdet. Gemäß den festgesetzten Millenium Development Goals (Entwicklungszielen) lag die Müttersterblichkeit 2001 bei 301 von 100 000 Lebendgeburten. Diese sollte bis 2015 auf 75 von 100 000 gesenkt werden. Das wird nicht passieren. Bislang hat Indien die Müttersterblichkeitsrate gerade mal auf 200 von 100 000 Lebendgeburten gesenkt. Bei 27 Millionen Lebendgeburten in Indien pro Jahr sterben mindestens 54 000 Frauen während der Geburt.
Die indische Gesellschaft ignoriert häufig auch den Zusammenhang mit anderen Problemen. Obwohl unter Indira Awas Yojana eine Anordnung erlassen wurde, dass alle neugebauten Häuser eine Toilette haben müssen, haben tatsächlich nur sehr wenige Häuser ein WC. Die Notwendigkeit, sein Bedürfnis im Freien zu verrichten, scheint förmlich eine Einladung zur Vergewaltigung darzustellen. Beschwerden bei der Nationalen Menschenrechtskommission zeigen, wie viele Frauen entführt oder vergewaltigt werden, wenn sie nachts in die Felder gehen. In vielen Staaten weigern sich Mädchen im Teenageralter, die Schule zu besuchen oder werden von ihren Eltern von der Schule genommen, weil das Schulgebäude keine Toilette hat. So leidet dann auch ihr Recht auf Bildung.
Es ist traurig, war aber zu erwarten, dass indischen Frauen der Glaube eingeimpft wurde, ihre Sicherheit hinge von dem ab, was Männer ihnen als gutes Benehmen vorschreiben. Die NFHS3 ergab, dass 40 % aller verheirateten Frauen Gewalt in der Ehe ausgesetzt sind. Sie zeigt aber außerdem, dass 54% der betroffenen Frauen finden, dass es akzeptabel ist, dass ein Mann seine Frau schlägt, wenn sie ausgeht, ohne ihm Bescheid zu geben, mit ihm streitet, Geschlechtsverkehr verweigert, die Kinder vernachlässigt, nicht vernünftig gekocht hat, der Untreue verdächtigt wird oder der Familie ihres Mannes gegenüber respektlos war. Dazu heißt es im Bericht: „Es ist umso wahrscheinlicher, dass die Gewalt als gerechtfertigt angesehen wird, wenn das beschriebene Verhalten das verletzt, was als akzeptables Verhalten für Frau in ihrer geschlechtsspezifischen Rolle als Ehefrau, Mutter und Schwiegertochter wahrgenommen wird.“
Offensichtliche Gewalttaten
Und dann wären da noch die offensichtlicheren Handlungen krimineller Gewalt gegen Frauen. In Indien gibt es enorme Probleme mit Menschenhandel und eine spezielle Gefährdung von Frauen in Konfliktzonen. Adivasi und Dalit-Frauen sind als Hexen gebrandmarkt. Nach wie vor gibt es Tragödien wie Zwangsehen, Mädchen, die getötet werden, weil sie den Jungen ihrer Wahl heiraten oder nicht genug Mitgift mitbringen oder die unnötigen Hysterektomien (operative Entfernung der Gebärmutter) unter dem Krankenversicherungssystem Rashtriya Swasth Bima Yojana.
In der Gesellschaft, wie auch zwischen Staaten, beruht Sicherheit auf Macht. Die Schwächsten sind diejenigen, die am wenigsten sicher sind. Frauen in Indien sind nicht sicher und bleiben gefährdet, weil sie in dieser patriarchalen Gesellschaft Gottes vergessene Kinder sind. Damit Indiens Frauen sicher sind, muss sich das Land ändern – es sollten mehr Frauen im Parlament und in Positionen von politischer und exekutiver Bedeuting sitzen. Jede Wahl bringt die Hoffnung auf einen Neuanfang mt sich. Aber Indien wird sich nicht verwandeln. Es kann nicht sicher sein, sich nicht entwickelt und nicht respektiert werden, solange die Demokratie, auf die es so stolz ist, nicht die dringend notwendige fundamentale Veränderung in den Leben seiner Frauen herbeiführt.
Satyabrata Pal, die Autorin des hier frei übersetzten Originalartikels ist ehemaliges Mitglied der Nationalen Menschenrechtskommission.
Es sei kurz zum allgemeinen Verständnis erwähnt, dass nach Einführung des neuen Versicherungssystems für Familien unter der Armutsgrenze „Rashtriya Swasthya Bima Yojna“ in 2008, die Anzahl der durchgeführten Hysterektomien dramatisch anstieg. Vielleicht konnten sich einige Frauen mit entsprechender Diagnose den Eingriff plötzlich leisten. Der Anstieg war jedoch so drastisch, dass vermutet wurde, die Krankenhäuser hätten den unter dem RSBY höchstvergüteten Eingriff auch unnötigerweise durchgeführt. Dafür sprach, dass viele der betroffenen Frauen unter 30 Jahre alt waren. 2012 wurden Untersuchungen eingeleitet. Es wird vermutlich nie ganz aufgeklärt werden können, welche Operationen notwendig waren. Aber es sind Fälle aufgedeckt worden, bei denen der Eingriff „nur auf dem Papier“ stattgefunden hatte. Neuere Berichte gehen von etwa 30 000 unnötigen operativen Gebärmutterentfernungen aus.
Warum die Inderin Rita Banerji, Gründerin der „The 50 Million Missing Campaign“, das Massenmorden an Indiens Frauen und Mädchen zu Recht als Völkermord bezeichnet und weltweit dafür kämpft, dass dieser auch als solcher anerkannt und geahndet wird, erklärt sie in ihrem Artikel „Warum soll die Vernichtung indischer Frauen als Völkermord (Genozid) gewertet werden?“
Sie können den Kampf gegen den Genozid in Indien unterstützen, indem Sie z. B. die Petitionen der Kampagne unterzeichnen und die Facebookseite der Kampagne liken. Die Links zu den Petitionen und wie Sie „The 50 Million Missing Campaign“ noch unterstützen können, erfahren Sie hier: http://50millionenfehlenunskampagne.wordpress.com/volunteer/
Netzfrau Andrea Wlazik
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