Über drei Jahre ist es her, das große Unglück von Fukushima, die schlimmste Reaktorkatastrophe seit Tschernobyl. Was sich über all die lange Zeit gehalten hat, sind das Stillschweigen der Firma TEPCO und der Regierung.
Auch über die gesundheitlichen Folgen für die Bevölkerung wird sich entweder ausgeschwiegen oder es wird schamlos gelogen.
Aktuell fordert die Regierung die evakuierte Bevölkerung auf, an ihre Wohnorte zurückzukehren. Ist es wirklich bedenkenlos möglich, die Häuser in der Präfektur Fukushima wieder zu beziehen, die Kinder dort in die Schulen zu schicken, die Eltern dort arbeiten zu lassen? Der ehemalige Bürgermeister von Futaba, einem Ort in der Präfektur Fukushima, steht in nachfolgend übersetztem Interview Rede und Antwort.
Wir übersetzen Ihnen hier den Artikel Fukushima disaster: Tokyo hides truth as children die, become ill from radiation – ex-mayor
Die Katastrophe von Fukushima fand vor fast drei Jahren statt. Seitdem hat die Strahlung Tausende aus ihren Häusern gezwungen und viele Menschenleben gekostet. Es erforderte große Anstrengungen, um den ultimativen Zusammenbruch der Anlage zu verhindern – aber sind die Nachwirkungen tatsächlich „weg“?
Tokio sagt ja und behauptet, die Regierung tue alles für diejenigen, die unter der Katastrophe gelitten haben. Doch manchmal steigen beunruhigende Fakten an die Oberfläche. Um ein wenig Licht auf das Geheimnis der Zeit nach Fukushima zu werfen, spricht Sophie Schewardnadse mit dem ehemaligen Bürgermeister einer der von der Katastrophe betroffenen Städte. Katsutaka Idogawa ist heute auf SophieCo.
Sophie Schewardnadse: Herr Idogawa, herzlich willkommen auf unserem Sender. Ihre Stadt Futaba war finanziell stark abhängig von den Kernreaktoren und Sie selbst genehmigten den Bau mehrerer Reaktoren. Wussten Sie damals, dass etwas schief gehen könnte?
Katsutaka Idogawa: Ja, ich vermutete, dass etwas schief gehen könnte, aber einen Unfall solchen Ausmaßes hatte ich nicht erwartet.
Sophie Schewardnadse: Sie sagen, Ihnen war von Anfang an klar, dass die Regierung und die Betreiber der Anlage – TEPCO – bezüglich der Folgen des Unfalls in Fukushima lügen würden. Wann haben Sie das Vertrauen in die Behörden verloren?
Katsutaka Idogawa: Das war schon vor dem Unfall, bei meinem ersten Zusammentreffen mit den Leitern des Kraftwerks. Ich tat so, als habe ich keine Ahnung und fragte sie aus, über mögliche Unfälle in einem Kernkraftwerk. Es stellte sich heraus, dass sie viele meiner Fragen nicht beantworten konnten. Genau an diesem Punkt wurde mir bewusst, dass ihr Management nicht einmal einen Notfallplan hat. Da wurde mir klar, dass die Anlage gefährlich sein könnte.
Sophie Schewardnadse: Der 11. März 2011 – der Tag der verheerenden Erdbeben und Tsunami in Japan… wo waren Sie an diesem Tag ?
Katsutaka Idogawa: Ich war an diesem Tag nicht in Futaba, aber ich war bei einem Unternehmen in einer nahe gelegenen Stadt, als sich das Erdbeben ereignete.
Sophie Schewardnadse: Was ging um Sie herum vor?
Katsutaka Idogawa: Dort wo ich war, gab es nach dem Erdbeben keine zerstörten Gebäude oder beschädigten Wasserleitungen im Boden. Ich fuhr sofort zurück nach Futaba und sah das wahre Ausmaß erst auf dem Weg. Ich erreichte Futaba, bevor die größeren Tsunami kamen. Erst später erkannte ich, dass ich dem Wasser knapp entkommen war…
Sophie Schewardnadse: Ich könnte mir vorstellen, dass wenn eine Katastrophe dieser Größenordnung passiert, es sehr schwierig sein muss, die persönlichen Gefühle zu kontrollieren und adäquate Maßnahmen zu ergreifen. Was waren Ihre ersten Maßnahmen?
Katsutaka Idogawa: Das Erdbeben war sehr stark. Ich dachte immer: „Wenn es so stark war, was wird mit dem Kraftwerk passieren? Was ist, wenn der Reaktor beschädigt ist? Was, wenn die Tanks lecken? Was wird die Stadt tun? Was soll ich als Bürgermeister tun?“
Sophie Schewardnadse: Ich kann mir nur vorstellen, wie viel Sorgen Sie in diesem Moment fühlten. Erinnern Sie sich daran, was Sie unmittelbar nach der Katastrophe taten?
Katsutaka Idogawa: Es dauerte 20 bis 30 Minuten, zurück in mein Büro nach Futaba. Es gab einen Stau, deshalb wählte ich eine alternative Route entlang der Küste. In diesem Moment dachte ich an nichts, außer daran, dass ich so schnell wie möglich zurück wollte. Ich hörte eine Tsunami-Warnung im Autoradio. Tsunami-Wellen waren dort noch nie höher als 60 cm. Ich dachte, dass, auch wenn sie groß ist, die Welle höchstens 6 Meter hoch sein würde. Ich hatte keine Ahnung, dass die Straße, auf der ich fuhr, vom Tsunami weggeschwemmt werden könnte. Ich hatte Glück. Der Tsunami kam, nachdem ich die Straße passiert hatte und in die Berge fuhr. Ich erreichte mein Büro in Futaba und begann die Überprüfung auf Schäden. Ich ging in jede Etage und in der 4. Etage schaute ich aus dem Fenster. Normalerweise können Sie von dort das Meer nicht sehen, aber ich sah es nun in nur 300-500 Meter Entfernung. Es war ein wirklich schrecklicher Anblick. Die Gedanken wirbelten in meinem Kopf: „Was soll ich tun? Wie sind die Menschen zu evakuieren? Wo sollen wir hin? Wie können wir uns selbst retten?“ Außerdem war mir klar, dass das Kraftwerk beschädigt sein musste und ich wusste nicht, was zu tun war. Rückblickend denke ich, dass ich die Krise nicht gut genug gemeistert habe. Ich denke, ich habe mir nicht genug Fragen gestellt.
Sophie Schewardnadse: So wie ich es verstanden habe, ordneten Sie die sofortige Evakuierung der Stadt an?
Katsutaka Idogawa: Ja. Ich schlief in dieser Nacht nicht. Ich saß vor dem Fernseher, denn es war die einzige Informationsquelle. Ich dachte immer, was ist mit der Strahlung, wie können die Menschen informiert und evakuiert werden? Mobiltelefone funktionierten nicht, weil es kein Funksignal gab, so war das Radio der einzige Weg. Am Morgen des 12. März ordnete ich eine Notfall-Evakuierung an. Ich nahm an, die Strahlung würde die Berge nicht erreichen, und wir wären sicher, wenn wir die Stadt verlassen. Ich sagte den Leuten, sie sollen nach Kawamata gehen, eine 50 km entfernte Stadt. Es gibt nur eine Straße dorthin und die war voll mit Autos. Später erfuhr ich, dass nicht alle Bewohner Futabas meine Ankündigung hörten. Ich fühle mich schuldig deshalb. Damals glaubte ich, dass es sicher sei, nach Kawamata zu gehen, denn das Kraftwerk war mehr als die von der Regierung empfohlenen 10-20 km entfernt. Später fand ich heraus, dass die Präfektur Fukushima mir nicht alle Informationen hatte zukommen lassen. Und jetzt unternimmt die Regierung nichts, um die Sicherheit der Menschen vor Strahlung und die Überwachung der Umsetzung von Evakuierungsmaßnahmen zu gewährleisten.
Sophie Schewardnadse: Sie beschlossen, die Menschen aus Futaba so weit wie möglich zu evakuieren, ohne Rücksprache mit irgendjemand – so übernahmen Sie die alleinige Verantwortung?
Katsutaka Idogawa: Unsere Stadt hatte immer einen Notfallplan im Falle eines Feuers oder eines Unfalls auf der Anlage. Jedes Jahr hatten wir spezielle Übungen für den Fall, dass es ein Feuer in der Anlage gibt. Ich denke, die Zentralregierung und die Behörden der Präfektur Fukushima tragen die größte Verantwortung für das, was passiert ist. Als Bürgermeister ist es meine Verantwortung, mich um die Menschen in Futaba zu kümmern. Es blieb mir keine Zeit, um Rat einzuholen. Ich versuchte, die Behörden der Präfektur zu erreichen, aber es war das absolute Chaos. Es war unmöglich, Ratschläge zu bekommen oder eine Sitzung einzuberufen. Also entschied ich mich, auf eigene Faust zu handeln, und ich beschloss, mit der Evakuierung der Menschen zu beginnen – so weit wie möglich weg von der Strahlung.
Sophie Schewardnadse: Ihre Stadt ist umgezogen, hin zur benachbarten Stadt Iwaki. Ist es dort sicher? Sehen Sie dies als einen Neuanfang für die Menschen?
Katsutaka Idogawa: Ich würde Ihnen gerne eine Aufstellung von Strahlenwerten um Tschernobyl zeigen. Die Strahlenwerte rund um Fukushima sind vier Mal höher als in Tschernobyl. Deshalb denke ich, es ist zu früh für die Menschen zurück in die Präfektur Fukushima zu kommen. Hier sind Strahlungswerte in unserer Region Tohoku zu sehen. Dies ist Ground Zero, und der Strahlungsradius beträgt 50 bis 100 km und tatsächlich auch 200 km. Die Präfektur Fukushima ist der Mittelpunkt. Die Stadt Iwaki, wo Futabas Bürger hinziehen, ist auch in der Präfektur Fukushima. Es ist keineswegs sicher, egal was die Regierung sagt. Menschen dem aktuellen Strahlenniveau in Fukushima auszusetzen ist eine Verletzung der Menschenrechte. Es ist schrecklich.
Sophie Schewardnadse: Evakuierungsempfehlungen werden für einige Städte im Bereich Fukushima aufgehoben – trotz der Gefahr von Strahlung – wie Sie sagen, sogar mit Erlaubnis der Regierung?
Katsutaka Idogawa: Die Präfektur Fukushima hat die „Come Home“-Kampagne ins Leben gerufen. In vielen Fällen werden die Evakuierten zur Rückkehr gezwungen. Hier ist eine Karte der Präfektur Fukushima, die von Strahlung betroffenen Bereiche sind gelb hervorgehoben. Sie sehen, die Farbe bedeckt fast die gesamte Karte. Die Luftkontamination ist minimal verringert, aber die Kontamination der Böden ist gleich geblieben. Und es gibt immer noch etwa zwei Millionen Menschen in der Präfektur, die alle Arten von gesundheitlichen Problemen haben. Die Behörden behaupten, das habe nichts mit den Folgen zu tun. Ich verlangte, dass die Behörden ihre Behauptung schriftlich begründen, aber sie ignorierten meine Anfrage. Es gibt einige schreckliche Dinge in Fukushima. Ich erinnere mich, dass ich so tiefes Mitgefühl für die Opfer der Tschernobyl-Tragödie empfand, dass ich kaum die Tränen zurückhalten konnte, sobald ich einen Bericht darüber hörte. Und jetzt, da eine ähnliche Tragödie in Fukushima passiert ist, ist das größte Problem, dass niemand da ist, um uns zu helfen. Sie sagen, es ist sicher zurückzukehren. Aber wir müssen aus Tschernobyl lernen. Wir müssen unsere Kinder schützen. Ich sprach mit den lokalen Behörden an verschiedenen Orten in Fukushima, aber niemand wollte auf mich hören. Sie glauben, was die Regierung sagt, während in Wirklichkeit die Strahlung immer noch da ist. Diese Strahlung tötet Kinder. Sie sterben an Herzerkrankungen, Asthma, Leukämie, Schilddrüsenentzündung… Viele Kinder sind nach der Schule sehr erschöpft; andere sind einfach nicht in der Lage, am Sportunterricht teilzunehmen. Aber die Behörden verstecken immer noch die Wahrheit vor uns und ich weiß nicht warum. Haben sie nicht selber Kinder? Es tut so weh zu wissen, dass wir unsere Kinder nicht schützen können.
Sophie Schewardnadse: Viele Kinder, die evakuiert worden sind, werden nun wieder im Bezirk Fukushima leben; es werden neue Schulen für die Kinder eröffnet, und Sie sagen, die Kinder werden dort der Strahlung ausgesetzt… Ist denn irgendetwas getan worden, um den Kindern zu helfen, die vom Gau betroffen waren?
Katsutaka Idogawa: Offiziell sagen sowohl die Zentralregierung und die Präfekturbehörden, es gibt keine Strahlung. Sie tun nichts und sie werden nichts tun. Sie sagen, die Präfektur Fukushima ist sicher und das ist der Grund, warum niemand die Kinder evakuiert, sie irgendwo anders hinbringt. Wir dürfen nicht einmal darüber diskutieren.
Sophie Schewardnadse: Nach der Tragödie wollte die Regierung Atommülllager auf dem Stadtgebiet von Futaba bauen. Sie waren dagegen, aber wenn ich es richtig verstehe, werden diese Einrichtungen jetzt trotzdem gebaut werden. Befürchten Sie, dass dies die Bewohner für immer davon abhalten wird, in ihre Stadt zurückzukehren?
Katsutaka Idogawa: Medien berichten, dass die abschließende Entscheidung getroffen wurde. Aber das ist nicht wahr. Das Problem ist der Prozess der Entscheidungsfindung. Darum halte ich immer noch dagegen. Die Zentralregierung trifft alle Entscheidungen alleine, so wie es ihr gefällt. Sie ignoriert die Opfer. Eigentlich haben wir eine Regel in unserem Land, die besagt, dass Entscheidungen nicht getroffen werden, ohne die Meinung der Menschen zu berücksichtigen. Aber die Regierung ignoriert diese Regel, und tut alles nur so, wie es ihr am besten passt. Letzten Endes hängt es von den Grundbesitzern ab. Wenn sie nicht einverstanden sind, kann nichts passieren. So ist das in Japan. Und obwohl viel spekuliert wird, hat noch niemand mit den Grundbesitzern gesprochen. Medienberichte, dass die endgültige Entscheidung getroffen sei, sind verfrüht. In Wirklichkeit ist nichts entschieden. Alles, was wir jetzt wissen, ist, dass Lager gebaut werden und dass das Land verstaatlicht wird. Strahlung ist ein großes Problem, aber das ist noch nicht gelöst worden. Ohne Rücksprache mit uns hat die Präfektur Fukushima angekündigt, dass die Menschen für 30 Jahre aus der Präfektur ausgesiedelt werden, aber auch dieses Versprechen konnten sie nicht halten. Es ist alles sehr unvernünftig. Alle unpopulären Entscheidungen werden ohne uns getroffen. Darum sage ich auch weiterhin Nein.
Sophie Schewardnadse: Sie wiesen zu Anfang auf die Unfähigkeit von TEPCO hin, die Situation in der Atomanlage zu managen. Mehr als drei Jahre kämpft TEPCO nun schon, um die Situation in den Griff zu bekommen. Warum haben sie versagt?
Katsutaka Idogawa: Das ist die Art, wie TEPCO funktioniert. Das Problem ist ihre Struktur. Die Menschen in der Zentrale arbeiten unter privilegierten, diejenigen aber, die vor Ort tätig sind, unter sehr schwierigen Bedingungen. So war es schon vor dem Unglück. Als der Unfall passierte, konnten uns weder TEPCO noch deren Mitarbeiter die Namen der Menschen nennen, die für das Unglück verantwortlich waren. Sie konnten es nicht tun, weil das Unternehmen keine wirklichen Fachleute hat. Schon vor dem Unglück war ich einige Male in ihrem Büro und fragte eine Menge Fragen wie: „Wird Ihr Personal regelmäßig geschult? Ist alles in Ordnung? Könnte es passieren, dass Ihre alten Gerätschaften versagen?“ Als Antwort gaben sie mir nur viel schöne Worte. Aber sie ergriffen keine praktischen Maßnahmen, sie taten eigentlich nie etwas. TEPCO ist zu sehr von sich selbst überzeugt und delegiert fast alles an Subunternehmer. Darum kann, wenn etwas passiert, nie jemand wirklich zur Rechenschaft gezogen werden. Außerdem verfolgt das Unternehmen die Situation an der Basis nicht. Gerade heute erschien wieder ein Bericht dazu, dass sie einen Fehler machten und die falsche Pumpe benutzten. Als Ergebnis landete das kontaminierte Wasser am falschen Ort. Was den Wiederaufbau der Stadt angeht, bin ich wirklich besorgt über die Zukunft meiner Heimatstadt Futaba.
Sophie Schewardnadse: Nun wurden Japans Obdachlose für die hauptsächlichen Aufräumarbeiten rekrutiert. Ist das eine brauchbare Belegschaft für diese Angelegenheit? Gibt es einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften? Oder werden diese Menschen als eine Art „Einwegarbeiter“ betrachtet? Ist das überhaupt wahr?
Katsutaka Idogawa: Leider ist es wahr. Wenn sie Arbeiter auf einer einmaligen Basis „verwenden“, müssen sie weder die Strahlung beachten, noch sich um deren Gesundheit kümmern. Wir müssen die Menschen respektieren, uns um sie kümmern. Anlässlich der Olympischen Spiele in Tokio im Jahr 2020 spricht Premierminister Abe über japanische Gastfreundschaft. Er benutzt das japanische Wort „Omotenashi“, was wörtlich bedeutet, dass man Menschen mit einem offenen Herzen begegnen soll. Aber das sehen wir nicht in unserer Situation. Während Ministerpräsident Noda mit Eigenwerbung beschäftigt war, kümmerten sich die Behörden immer weniger um die Menschen, die in der Anlage Fukushima arbeiteten. Ihre Ausrüstung wurde immer schlechter, die Vorbereitung mangelhaft. Darum mussten die Menschen zuerst an ihre Sicherheit denken. Darum sind jene, die verstanden haben, welche Gefahr von der Strahlung ausgeht, gegangen. Jetzt haben wir dort unprofessionelle Arbeiter. Sie haben nicht wirklich verstanden, was sie tun. Das ist die Art von Menschen, die eine falsche Pumpe verwenden und ähnliche Fehler machen. Ich bin besonders besorgt über ihre Vorgesetzten. Es scheint mir, ihre Gruppenleiter sind keine echten Profis. Sie wissen nicht, was sie tun. Ich schäme mich wirklich für mein Land, aber im Interesse unseres Planeten und seiner Erhaltung muss ich die Wahrheit sagen.
Sophie Schewardnadse: Ist der Grund dafür, dass die Regierung das wahre Ausmaß der Katastrophe so lange geheim gehalten hat, die traditionelle japanische Angst vor Gesichtsverlust?
Katsutaka Idogawa: Es geht der Regierung nur darum, die Verantwortung zu vermeiden.
Sophie Schewardnadse: Ich verstehe. Aber warum hat die Regierung so lange geschwiegen und der Welt nicht erzählt, wie schlimm es wirklich war?
Katsutaka Idogawa: Es gab einige traurige Kapitel in der Geschichte Japans. Das gleiche geschah mit Hiroshima und Nagasaki. Die Behörden belogen alle. Sie sagten, es war sicher. Sie vertuschten die Wahrheit. So leben wir. Das ist nicht nur Fukushima. Japan hat einige dunkle Geschichten. Das ist eine Art Opfer für die Vergangenheit.
Sophie Schewardnadse: Der Bericht der Vereinten Nationen über die Strahlungsbelastung von Fukushima sagt aus, es seien keine strahlenbedingten Todesfälle oder akuten Krankheiten unter den Arbeitern und der allgemeinen Öffentlichkeit beobachtet worden – also ist es gar nicht so gefährlich? Oder sind die zur Verfügung stehenden Informationen nicht ausreichend, um eine adäquate Einschätzung abzugeben? Was denken Sie ?
Katsutaka Idogawa: Dieser Bericht ist völlig falsch. Der Bericht wurde von einem Vertreter Japans gefertigt – Professor Hayano. Und stellvertretend für Japan, belog er die ganze Welt. Als ich Bürgermeister war, kannte ich viele Menschen, die an einem Herzinfarkt starben. Aber dann waren da außerdem viele Menschen in Fukushima, sogar junge Menschen, die ganz plötzlich starben. Es ist wirklich eine Schande, dass die Behörden die Wahrheit vor der ganzen Welt verbergen, vor den Vereinten Nationen. Wir müssen einräumen, dass derzeit tatsächlich viele Menschen sterben. Es ist uns nicht erlaubt, das zu sagen, aber auch TEPCO Mitarbeiter sterben. Aber darüber schweigen sie.
Sophie Schewardnadse: Haben Sie irgendwelche Fallzahlen [dazu, wie viele TEPCO-Mitarbeiter gestorben sind]?
Katsutaka Idogawa: Heute habe ich die Zahlen nicht bei mir.
Sophie Schewardnadse: Herr Idogawa, wir brauchen nur eine Schätzung, nur um das Ausmaß der Tragödie zu verstehen, von der Sie sprechen.
Katsutaka Idogawa: Es bedeutet eine große Verantwortung, eine konkrete Zahl abzugeben. Das ist schwer für mich, denn ich habe diese Sache nicht persönlich untersucht. Aber es sind nicht nur ein oder zwei Personen. Wir sprechen eher von zehn bis zwanzig Menschen, die auf diese Weise gestorben sind.
Sophie Schewardnadse: Sie sagen, dass trotz der Katastrophe von Fukushima Japan den Bau weiterer Atomreaktoren plant – schließlich deckt Japan mindestens die Hälfte seines Energiebedarfs mit Kernenergie. Selbstverständlich sind Sie dagegen – aber Japan hat energietechnisch wirklich keine andere Wahl, oder?
Katsutaka Idogawa: Doch, hat sie. Japan hat viele Flüsse, Wasserkraft wird aber überhaupt nicht verwendet. Warum? Weil es nicht so profitabel ist für große Unternehmen. Eigentlich können wir auch mit begrenzten Investitionen Strom für eine große Zahl von Menschen produzieren, steuerfrei. Verwenden Sie einfach die Schwerkraft, und wir könnten so viel Energie schaffen, dass Kernkraftwerke keine Notwendigkeit mehr sein müssten. Und wir müssten auch unsere Gesetze ändern. Es gibt viele Gesetze in Japan, vielleicht zu viele. Es gibt Gesetze über Flüsse und die Art und Weise, wie sie verwendet werden. Wir könnten Gesetze in Bezug auf landwirtschaftliche Wassernutzung ändern und beginnen, mit Flüssen unseren Strom zu produzieren. Alleine die Änderung dieses einzelnen Gesetzes könnte es uns ermöglichen, eine Menge Energie zu erzeugen. Wir können das Problem durch die Verwendung natürlicher Energie lösen, ohne Verschmutzung unseres Planeten. Aber das gefällt Großunternehmen nicht, weil man keine großen Investitionen benötigt und keine großen Kraftwerke bauen muss. Das ist nicht so rentabel für Investoren, für Kapitalisten. Aber die Menschen in Japan beginnen zu erkennen, dass wir Atomkatastrophen abwenden müssen. 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung sind für den Einsatz von Naturenergie. Wir haben lange dafür gebraucht, aber eines Tages werden wir dem Beispiel Europas, dem Beispiel Deutschlands, folgen.
Sophie Schewardnadse: Spüren Sie persönlich Folgen der Katastrophe? Ist Ihre Gesundheit betroffen?
Katsutaka Idogawa: Ich bin jetzt schneller schöpft, es ist anstrengender zu sprechen, ich bekomme oft Erkältungen. Meine Sehkraft hat sich verschlechtert. Ich habe einen Katarakt [grauer Star]. Mein Bauch tut weh. Meine Haut ist sehr trocken. Ich habe Muskelschwäche in verschiedenen Teilen meines Körpers. Das sind die Folgen der Katastrophe.
Sophie Schewardnadse: Wird Ihnen als Opfer medizinische Behandlung zuteil?
Katsutaka Idogawa: Nein, ich bekomme momentan gar keine Behandlung. Ich kann mich nirgends hinwenden, um Hilfe zu bekommen. Ich lebe nun in Saitama. Das nächste Krankenhaus weigerte sich, mich zu behandeln. Also versuche ich, meine Gesundheit durch Ernährung wieder herzustellen.
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Sicher ist dem aufmerksamen Leser nicht entgangen, was mir aufgefallen ist. Herr Idogawa hofft, dass es in Japan irgendwann so sein wird wie in Europa. Und das in Bezug auf Atomkraftwerke und regenerative Energien, dabei plant doch die EU aktuell den Bau neuer Kernkraftwerke. [Siehe: Atomkurs statt Energiewende? EU-Kommission will 69 neue Atomkraftwerke für Europa- Nicht mit uns!] Ein Unding, wenn man sich Fukushima anschaut, und ich mag mir gar nicht ausmalen, was sich noch alles hinter den Lügengebilden von TEPCO und der japanischen Regierung verbirgt.
Es ist Zeit für einen konsequenten Ausstieg aus der Atomkraft. Wir in Deutschland, wir in der EU, wir haben bereits die technischen Möglichkeiten dazu. Lassen wir uns von den Betreibern der AWK mit ihren Millionenklagen nicht länger auf der Nase herumtanzen! Sie haben lange genug profitiert vom Atomboom, der Allgemeinheit die Kosten und die Verantwortung für die Atommüllentsorgung aufgedrückt und profitieren auch noch von fetten Steuerbefreiungen.
Ein konsequenter EU-weiter Atomausstieg ist die einzige Möglichkeit, uns und unsere Kinder vor einem Supergau in unserem Land oder in unserer direkten Nachbarschaft zu bewahren. [Siehe: Die Kinder von Fukushima – es könnte auch unsere treffen!]
Bitte beteiligen Sie sich an diesem Aufruf an alle Politiker, indem Sie den folgenden Text auf den Facebookseiten möglichst vieler politisch tätiger Personen im In- und Ausland teilen und/oder ihn als Mail verschicken:
Sehr geehrte Damen und Herren Politiker,
Fukushima geht uns alle an! Dank der Pro-Atomkraft-Politik der EU und vieler weiterer Länder kann ein solcher Gau praktisch überall auf der Welt passieren. Solche Katastrophen fordern Offenheit, nicht Verschleierung! Die japanische Regierung hat eine „Come Home“-Kampagne installiert, um evakuierte Menschen dazu zu bewegen, wieder in die Präfektur Fukushima zurückzukehren. Teilweise werden die Bewohner sogar gezwungen, wieder nach Hause zu gehen. Nicht nur, aber vor allem für Kinder bergen erhöhte Strahlungswerte, wie sie immer noch um Fukushima gemessen werden, ein großes gesundheitliches Risiko. Übernehmen Sie Verantwortung und fordern Sie die japanische Regierung dazu auf, die „Come Home“-Kampagne zu verschieben und die Menschen nicht zur Rückkehr zu drängen oder gar zu nötigen, bis in der gesamten Region wieder tatsächlich unbedenkliche Werte (und nicht die von Japan schon extrem angehobenen Richtwerte!) gemessen werden. Die betroffenen Menschen müssen die Möglichkeit haben, selbst zu entscheiden, was für sie und ihre Kinder das Beste ist.
Netzfrau Andrea Wlazik
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