Die wahren Helden der Gesellschaft

Carlos

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Beim bekannten Boston Marathon am 15. April 2013 kamen drei Menschen bei einem Bombenanschlag ums Leben, 270 Personen wurden verletzt.

Unsere Netzfrau Maria aus Boston, die sich zum Zeitpunkt des Anschlags nur wenige Häuserblocks entfernt befand, berichtet aus ihrer Sicht und erinnert an die wahren Helden der Gesellschaft.

Gestern, an Ostern, liefen meine Freundin Maria und ich durch den Botanischen Garten, der an unseren Stadtteil angrenzt, bewunderten die aufblühenden Magnolienbäume und die unter strahlendem Himmel gelb leuchtenden Forsythien und froren. Ich fror trotz zwei Fleecejacken übereinander und bereute, meine winddichte Daunenjacke mit dem langen Kunstfellrand an der Kapuze zu Hause gelassen zu haben. Der kalte Wind war, wie stetig diesen Winter, gnadenlos.

Heute ist es mild, der harte Wind ist sanft geworden und hat in drei Stunden die Wäsche, die ich auf die Hinterveranda hängte, getrocknet. Heute ist auch noch Feiertag! (Welch ein Glück!) Nicht etwa Ostermontag, den es hier nicht gibt. Auch Ostern selbst ist nur mäßig wichtig wie die meisten religiösen Feiertage außer Weihnachten. Unseren speziellen Feiertag gibt es nur hier, nicht in anderen Staaten der USA. Der Feiertag heißt Patriot’s Day. Ich habe vergessen, was er feiert, außer dass er etwas mit der amerikanischen Revolution zu tun hat. Hierin bin ich sicher, wie die Mehrzahl der Bewohner meines Staates, die es garantiert auch nicht genauer wissen. Der Feiertag hat nämlich eine zweite, allgemein geschätzte und ernst genommene Bedeutung: Marathon Monday.

Bevor ich hierher kam, kannte ich niemanden, der je einen Marathon gelaufen war. Die Idee, 42 km so schnell wie möglich zu rennen, kam mir absolut weit hergeholt vor. Jetzt kenne ich drei oder vier Marathon-Läufer allein von meiner Arbeit, am sichersten dabei mein Chef, der jedes Jahr mitläuft, vorher sehr ernsthaft trainiert und dafür durch seine Spitzen-Kondition belohnt wird. Außerdem kenne ich viele, die irgendwo entlang der 42 km (eher zur zweiten Hälfte hin) am Straßenrand stehen, um den Läufern Wasser, Essenshäppchen, Handtücher usw. anzubieten und um sie durch Zurufe anzufeuern. Einmal ging ich auch an den Straßenrand, als ein Kollege lief, der von auswärts war und deshalb keine Familienmitglieder hatte, die sich für ihn an die Straße stellen würden. Es war eine bemerkenswerte Erfahrung, wie viele Menschen eine solche Tortur auf sich nehmen. Nach diesem einen Mal genoss ich jedes Jahr am Marathon-Monday vielleicht einen halben freien Tag, mehr Ruhe bei der Arbeit, zu der ich immer ging und meine angenehm ausgeruhten Beine, die keine 42 km getrieben worden waren.

Aber für viele Zehntausende ist der Marathon-Monday ein Volksfest. Das hat zu tun mit dem Frühlingsanfang und der strahlenden Sonne, die an diesem Tag immer scheint. Es hat auch zu tun mit der extremen Anstrengung, die so viele Mitbürger auf sich nehmen, um zu zeigen, was in einem Menschen alles drinsteckt, um das Letzte aus sich herauszuholen, um sich selber zu überwinden – Tugenden, die hier sehr hoch geschätzt werden. Es hat zu tun mit dem Feiern der unterschiedlichen Teilnehmer, der verschiedenen Formen einer sportlichen Höchstleistung: die unglaublich schnellen Rollstuhlfahrer, die Älteren in ihren 70er und 80er Jahren, diejenigen, die das erste Mal in ihrem Leben einen Marathon laufen, und natürlich die Spitzensportler, die Sieger, die mit jedem Schritt noch ein Stückchen länger und weiter durch die Luft fliegen als erwartet.

Im letzten Jahr war ich bei der Arbeit, als Kolleginnen nachmittags sagten, es hätte Explosionen am Marathon-Ziel gegeben und viele Menschen seien verletzt. Manche hätten ihre Beine verloren. Man hörte viele Sirenen von Notfallwagen auf der Straße, und Hubschrauber flogen vorbei. Nicht gut. Ich hatte Angst, mein Chef und seine Frau, die beide liefen, könnten in diese Krise, was immer sie war, geraten sein. Seine Frau, ein fantastischer Mensch, die ich zutiefst mag und respektiere, mailte später, dass bei ihr alles ok war und sie vorzeitig den Lauf abbrechen musste. Auch mein Chef war nicht verletzt. Ich dachte an diese Menschen, die ich kenne und die mir wichtig sind, und wenig an die anderen in den ersten Minuten und Stunden.

Dann entwickelten sich die bekannten Ereignisse. Die Tsernaev-Brüder wurden nicht etwa vom allgegenwärtigen NSA-Netz (von dem wir damals noch nicht wussten) gefasst, sondern wurden erst identifiziert, als die Polizei die Allgemeinheit einschaltete: Das FBI veröffentlichte Bilder von zwei jungen Männern, die nahe der Ziellinie zwei Rucksäcke abgestellt hatten, und ihre Freunde und Studienkollegen erkannten die zwei Brüder. Deren Flucht, das Erschießen eines Polizisten der Universitätspolizei von MIT um seine Dienstwaffe zu nehmen, das Kidnappen eines Mercedesfahrers und sein Entkommen, die Positionsdarstellung des Autos für die Polizei durch Elektronik im Mercedes, die Jagd des Wagens durch die Stadt und der Tod des älteren Bruders, der vom jüngeren überfahren wurde – all das ist bekannt. Dass der Bürgermeister und der Gouverneur über viele Stadtteile eine Ausgangssperre verhängten, bevor der jüngere Bruder entdeckt wurde, war nicht kontrovers. In Deutschland wäre es vielleicht nicht so fraglos akzeptiert worden.

Die Brüder hatten schon recht lange in meiner Stadt gelebt. Jeder fragte sich, wie sie planen konnten, ihre Freunde und Kommilitonen, die leicht an der Ziellinie hätten sein können, zu verletzen oder zu töten. Zufällig waren es nicht ihre eigenen Freunde, sondern eine chinesische Studentin, eine junge Frau und ein achtjähriger Junge, die umkamen. Mir fiel dazu nur ein, dass die grausame Idee und der so brutale wie abgrunddumme Ausführungsplan ein Konglomerat aus manchen Hollywoodfilmen und Dschihad-Webseiten sein mussten. Ich vermute, dass diese beiden Medienformen sich gegenseitig spiegeln und beeinflussen.

Als der jüngere Tsarnaev-Bruder aus dem Boot in einem Vorstadtgarten gezogen wurde, war ich erleichtert, dass er nicht von der Polizei erschossen wurde. In diesem Land versteht sich die Polizei immer mehr als ein Zweig des Militärs. Diesmal ging es wirklich gegen einen Terroristen. (Die Spezies “Terrorist” ist effektiv so rar wie im öffentlichen Diskurs allgegenwärtig, so wie früher in diesem Land die Spezies “„Kommunist.”) Dass dieser kriminelle junge Mann lebend verhaftet und vor Gericht gestellt würde, statt im Kugelhagel zu enden, war nicht unbedingt vorauszusetzen. Ich war der Polizei dankbar dafür.

Als die zwei Bomben am Marathon-Monday vor einem Jahr losgingen und die Nägel und Schrauben, von der Explosion geschleudert, so vielen Menschen die Beine abrissen, brach zunächst Chaos aus und die Unverletzten versuchten, sich in Sicherheit zu bringen. Und dann gab es einige, die aufs Zentrum der Explosion zuliefen. Ihr erster Instinkt war, wie kann ich helfen?

Einer war Carlos Arredondo, den ich schon lange kenne. Carlos stellte in unserem Stadtteil jahrelang immer wieder am Denkmal für die Bürgerkriegssoldaten eine fahrbare Gedenkstätte für seinen Sohn auf. Sein Sohn Alexander kam 2004 als Soldat im Irakkrieg um. Carlos stellte einen Sarg auf einen Anhänger, die Stiefel von seinem Sohn dazu, viele amerikanische Fahnen, viele kleine Erinnerungsstücke an seinen Sohn und demonstrierte gegen den Krieg. Diesen Anhänger fuhr er jahrelang, wohin er konnte, und sprach mit allen Menschen über seinen Sohn und über den grausamen sinnlosen Irakkrieg gesprochen. Von Depressionen befallen nach dem Tod seines Bruders, brachte sich Carlos’ zweiter Sohn Brian 2011 um. Carlos ist ein ungemein warmer, offener Mensch. Er trägt meistens einen Cowboyhut, wie es die Männer in seiner Heimat Costa Rica tun. Carlos war lange undokumentiert hier im Land.

Als die Bomben explodierten, war Carlos in der Nähe, zur Unterstützung eines Selbstmord-Präventions-Teams, das am Marathon teilnahm. Er rannte sofort zur Stelle der Explosion und begann, die Verletzten in Sicherheit zu bringen. Ein älterer Mann hatte beide Beine verloren und war am verbluten. Carlos lief zu ihm hin, drosselte beide Arterien ab, setzte ihn in einen Rollstuhl und brachte ihn zum Erste-Hilfe-Posten. Der Mann überlebte, und Carlos und er sind noch in Verbindung.

Dieses Jahr begannen die Medien schon einen Monat vor dem Marathon-Monday, wieder aufzuzählen, wer getötet worden war, wer verletzt worden war, wer mit seinen Beinprothesen gut zurechtkommt, wer noch nicht darüber hinweggekommen ist, wer ein Held war und, dass wir ja alle Helden sind. Ich weiß nicht, ob es den Opfern hilft, öffentlich gefeiert zu werden. (Und nie und nirgends werden die Opfer der Bomben erwähnt, die die US-Luftwaffe aus Drohnen abschießt, im Nachfolgekrieg zu Irak). In Deutschland wird weniger von Helden gesprochen als hier. Aber es gibt Helden und wir brauchen sie. Carlos und die anderen Zuschauer, die in einem Sekundenbruchteil zu Lebensrettern wurden, sind für mich Helden. Ich frage mich, ob ich zur Explosionsstelle hingesprintet wäre oder davon weggerannt. Ich würde gerne denken, dass ich geholfen hätte, aber das kann ich leicht denken im ersten milden Wind des Jahres. Ich weiß es nicht.

Netzfrau Maria May

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