Jedes Quartal und natürlich einmal am Ende eines Jahres blickt die wirtschaftsorientierte Klientel Deutschlands auf das BIP – das Bruttoinlandsprodukt.
Mit viel Akribie und auf zwei Nachkommastellen exakt berechnet werden die Werte verkündet – wobei der Blick von Jahr zu Jahr mehr auf die Nachkommastellen fokussiert werden muss, denn vor dem Komma will das BIP nicht mehr so viel wachsen.
Jedenfalls nicht im Vergleich zu China: Hier hat ein großer Nachholbedarf in Sachen Konsum und Produktion zu viel ansehnlicheren Wachstumsraten geführt. Diese Zeiten sind aber inzwischen auch vorbei und der chinesischen Statistik hat ohnehin kaum jemand so ganz getraut. Zweierlei muss allerdings gleich geklärt werden.
Dreimal bereinigte Werte
Während die deutschen BIP-Werte dreimal gereinigt werden, sind die chinesischen eher weniger porentief vorbehandelt. Damit nämlich die BIP-Werte in Deutschland überhaupt vergleichbar sind, werden sie preis-, saison- und kalenderbereinigt und dann wird noch hier und da verkettet, wie der Statistiker das nennt. Warum diese Reinheit ohnehin bald überflüssig sein dürfte, folgt gleich. Der Vergleich mit Wachstumsraten anderer Länder muss jedenfalls immer in Relation zu den nominalen Zahlen gesehen werden. Ein Wachstum von 7 Prozent kann 107 Euro gegenüber 100 Euro des Vorjahres bedeuten. Wenn also jemand von 50 Prozent redet, die er verspricht, sollte die Rückfrage immer lauten: 50 Prozent wovon? Als Antwort sollte man keinesfalls gelten lassen: „von 100 Prozent“; die korrekte Antwort muss immer den Bezugswert enthalten und z. B. lauten: „von einer oder von zehn Millionen Euro“.
Kein Profit? Schade für das BIP
Wir wollen uns hier gar nicht lange damit aufhalten, dass es seit Jahren vielerlei Kritikpunkte an der Sinnhaftigkeit des BIP gibt: Ist es für eine Volkswirtschaft wirklich so wertvoll, wenn eine Kennzahl auch wertvoller wird, je mehr Blechschäden und Verletzte wir haben oder je mehr Operationen wir durchführen mussten? Dazu wurde alles schon mal irgendwo geschrieben. Das BIP kann sich als Kennzahl der volkswirtschaftlichen Leistung einer Gesellschaft schon ohne diese Fachdebatte und aus einem anderen Grunde verabschieden: In einer Welt, in der immer mehr gemeinnützige Organisationen, Stiftungen und Vereine weitgehend in Kooperation und unentgeltlich Leistungen erbringen und Mehrwerte schaffen, die in keiner Statistik als monetäre Zuwächse vermerkt werden, drückt das BIP nicht mehr das aus, was den Wert einer Gesellschaft darstellt.
Der Wechsel zu einer kooperierenden Gesellschaft – zu einer Gesellschaft, die nicht mehr monetären Profit als Hauptziel vor Augen hat – ist in vollem Gange. Die Volkswirtschaftler und ihre Statistiker haben das BIP dieser Veränderung niemals angepasst. Fatal, denn soziale Gemeinschaften sind alles andere als eine kleine, am Markt teilnehmende Gruppe. „Nichtsdestoweniger ist diese soziale Ökonomie eine beeindruckende Kraft“, weiß auch Jeremy Rifkin in seinem neuen Buch („XERO“). Er verweist dabei auf eine Studie des Center for Civil Society Studies der Johns Hopkins University, die sich 40 Länder angesehen hat. Ergebnis: „Die Betriebsaufwendungen der Non-Profit-Commons belaufen sich auf 2,2 Billionen Dollar.“
In acht der untersuchten Länder, nämlich USA, Kanada, Japan, Frankreich, Belgien, Australien, Tschechien und Neuseeland „macht der Non-Profit-Sektor im Durchschnitt 5 Prozent des BIP aus. Sein Anteil übersteigt den Anteil aller Versorgungsunternehmen zusammengenommen, ist gleich dem des Bausektors und fast so groß wie der Anteil von Banken, Versicherungen und Finanzdienstleistern. “Wir wissen alle schon lange, dass ohne diese sozialen, caritativen und unentgeltlichen Leistungen unsere Gesellschaft nicht funktionieren würde. Was sollen, was wollen wir also weiterhin mit einer Kennzahl anfangen, die diese elementare Basis unserer Gesellschaft einfach ignoriert? Sie ist nicht mehr zeitgemäß.
Kooperation statt Konkurrenz? Schade für das BIP
Das BIP wird weiterhin an Sinn und Wert verlieren, wenn die Entwicklung zur kooperierenden statt konkurrierenden Gesellschaft weiter anhält. Rein volkswirtschaftlich betrachtet ist es heute schon schwer herauszurechnen, was eigentlich im Inland produziert und was im Ausland produziert und dann im Inland weiterverarbeitet wurde. In einem globalen Markt verliert das BIP an vergleichendem Wert, weil der Handel sich immer mehr internationalisiert. Überhaupt misst das BIP nur die Werte, die gehandelt und fakturiert werden. Kooperationsgeschäfte ohne Handel und ohne Fakturierung erscheinen im BIP nicht. Wenn zwei Familien sich gegenseitig beim Umzug helfen und so gegenseitig ein paar Tausend Euro Umzugskosten sparen, guckt das BIP in die Röhre. Den angemieteten Umzugs-LKW kann es noch verbuchen – das war‘s dann aber schon.
„Kost nix – ist nix!“ – Das gilt so nicht mehr.
Es dauerte eine Weile, bis die unentgeltlichen Nachbarschaftsleistungen aus der örtlichen Nähe in das globale Web wanderten. Doch es ist nicht mehr umkehrbar: Wir haben riesige Peer-To-Peer-Netzwerke, in denen sich Menschen gegenseitig helfen. Menschen mit gleichen Problemen, Menschen mit gleichen Hobbys und natürlich auch viele Menschen mit wirtschaftlichen Anliegen. Wenn ich eine Rechtsberatung benötige, kenne ich einen Anwalt, von dem ich diese erhalte. Wenn der Anwalt einen Pressetext für seine PR benötigt, kennt er mich. Sein und mein Netzwerk sind so angelegt, Kosten und Steuern zu vermeiden: WIN-WIN statt BIP. Ich stelle Dir nichts in Rechnung und Du stellst mir nichts in Rechnung. Dennoch entsteht ein Mehrwert für die Gesellschaft – aber eben nur für die soziale Gesellschaft: Gehandelt wurde ja nichts.
Qualität entsteht? Ist dem BIP egal …
Die Rollen der Menschen im Wirtschaftsalltag sind heute vielfältig – sie verändern sich teilweise binnen Tagen oder sogar Minuten: Tagsüber bin ich vielleicht jemand, der mit Kunden spricht und ihnen etwas verkauft. Abends bin ich vielleicht selbst ein Konsument, der aber einer Firma kostenfrei Ideen und Produkttipps liefert. Dafür erhalte ich vielleicht vorrangige Informationen oder es macht mir einfach Spaß, an einer Qualitätsverbesserung mitzuarbeiten.
„Eigennutz wird gemildert durch kollaborative Interessen und der traditionelle Traum, es vom armen Schlucker zum Millionär zu bringen, wird ersetzt durch den neuen Traum von einer nachhaltigen Lebensqualität.“ (Rifkin)
Wir sind nicht mehr fest in einer Rolle verankert, wir wollen nicht mehr abhängig sein in einer reinen geldorientierten, wachstumsbezogenen Gesellschaft, sondern verlassen den Hafen und gehen auf die Reise im Internet – wann immer wir das wollen. Wir haben verstanden, dass die Lebensqualität sich nicht in Besitztümern und Geld ausdrückt, sondern in der Qualität des jeweiligen Momentes, den es zu nutzen gilt. Nun könnte man meinen: Ok – dann werden wir halt doch so etwas wie ein Glücks-BIP haben, das misst, wie glücklich die Menschen sind. Man kann darüber diskutieren, man kann sich aber auch fragen, wozu eine solche Messung gut sein soll. Heute stellen wir dem BIP oft andere statistische Werte gegenüber und prangern damit Missstände an: Anzahl misshandelter Kinder, Anzahl Operationen, Gesundheitsaufwendungen, Unfalltote usw. Das zeigt doch: Was offensichtlich nicht gut läuft, wird durch ständiges Messen auch nicht besser, sondern nur durch Handeln. Soziale Gemeinschaften können handeln, aber brauchen dazu den Messwert nicht.
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Beim BIP wird jedes Jahr ermittelt, welche Beiträge private Konsumenten oder staatliche Investitionen beitragen. Was interessiert denn noch das Zustandekommen einer Kennzahl, wenn die Kennzahl selbst nicht mehr relevant ist?! Auch das können wir uns zukünftig sparen. Die Staatsquote oder Investitionsquote kann ja weiterhin separat gemessen werden. Warum aber in einer Gesellschaft, in der immer weniger Menschen Arbeit finden, in der immer mehr Schulden bei privaten wie auch staatlichen Haushalten angehäuft werden und in der ein wachsender Anteil des Einkommens (somit auch des BIP) in die Taschen der Reichen wandert, warum in dieser Zeit sich noch mit dem BIP beschäftigen?
Niedrige Grenzkosten mindern das BIP fortlaufend
Hinzu kommt: Wir werden immer günstiger produzieren, weil es heute oft möglich ist, kleine Mengen in entfernteste Gegenden zu liefern. Es ist für mich als Autor kein Problem, einem deutschen Leser mein Buch als PDF nach Indonesien zu schicken und den Betrag per Kreditkarte zu erhalten. Ich brauche keine Druckerei, keine Setzerei. Layout und das Buch (PDF) mache ich selber – das Lektorat bekommt einen Teil des Autorenhonorars ab. Fertig. Die Marge ist gering – das BIP wird dadurch kaum erfreut. Das ist die Geschäftswelt, in der wir schon leben und dieser Trend wird sich zügig verstärken. „Je mehr Güter und Dienstleistungen so gut wie umsonst zu haben sind, desto weniger wird auf dem Marktplatz gekauft – auch das mit negativen Folgen für das BIP.“ (Jeremy Rifkin). Die ganzen Zwischenhändlermargen (z. B. von Groß- und Einzelhändler, Transporteur, Lagerist …) fallen alle weg.
Statt Handel und Kauf – Tausch und Teilhabe
Es kommt der Trend zur Tausch- und Teilwirtschaft hinzu. Musik wird nicht mehr als Tonträger gekauft und ins Regal gestellt. Immer mehr Menschen hören Musik in der Cloud oder streamen. Bei Videos/Filmen der gleiche Trend. Einen größeren Aufsitz-Rasenmäher teilen sich zukünftig vielleicht mehrere Leute in einer Siedlung, die qualitativ gute Bohrmaschine darf zukünftig teurer sein, gehört aber der ganzen Hausgemeinschaft. Zugang geht vor Besitz, wie der Bestsellautor Jeremy Rifkins übrigens schon zum Ende des letzten Jahrhunderts in „Access“ plausibel erklärte und vorhersah. Ist es nicht zusätzlich widersinnig, eine nachhaltige Wirtschaftspolitik anstreben zu wollen, gleichzeitig aber sowohl umweltschonende wie auch umweltschädliche Methoden gleichermaßen in eine Kennzahl einzurechnen? Das BIP interessiert sich nicht dafür, zu welchem Zweck etwas produziert und gehandelt wird. Ob ein Messer für Köche oder die Militärjunta produziert wird, ist dem BIP egal.
Tschüss BIP!
Es ist wahrscheinlich tief gestapelt, wenn Rifkin meint: „Das BIP als Indikator wirtschaftlicher Leistung wird wahrscheinlich in den kommenden Jahrzehnten mit dem Rückgang der Marktwirtschaft an Bedeutung verlieren.“ Das ist so seine Art uns zu sagen: Verabschiedet Euch schnell, solange es noch lebt … Sagt: „Tschüss BIP!“.
Zum Schluss ein Blick zum Anfang
Kaum jemand erinnert sich, wann und warum überhaupt das BIP seinerzeit in Deutschland eingeführt wurde. Die Wirtschaftswoche schrieb es einst knapp so: „Die Entscheidung zugunsten des BIP als entscheidendem Parameter der Wohlstandsmessung fällt erst in den zwanzig Krisenjahren von 1930 bis 1950 – die wichtigen Stichworte lauten: New Deal, Zweiter Weltkrieg, Marshallplan.“ Die etwas ausführlichere, aber sicherlich deswegen streitbare Fassung: Eigentlich sollte ja Deutschland nach zwei Kriegen nicht mehr auf die Füße kommen. Strafe muss sein. Dann aber stellte sich heraus, dass ein starkes Deutschland als kapitalistischer Block gegenüber den kommunistischen Oststaaten strategisch bedeutsam sein könnte. So führten die Alliierten, vor allem natürlich die USA, das BIP in Deutschland ein, um sich einen Überblick darüber zu verschaffen, wie es um die deutsche Wirtschaft steht. Für den Marshallplan waren diese Kennzahlen seinerzeit von großem Wert.
Uns zeigt dies heute: Der einst historische Anlass zur Einführung des BIP ist aus heutiger Sicht überholt. Die Skeptiker unter Ihnen werden gerade dies als Steilvorlage nehmen, um dem BIP weitere bedeutsame Jahre zu wünschen – nach dem Motto: Mal sehen, wie nahe uns die Ostländer in den nächsten Monaten wieder kommen und ob wir dann nicht wieder einen Überblick à la BIP brauchen. Ganz ehrlich: Wenn sich diese Krise weiter zuspitzt, dürfte die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung unser geringstes Problem sein, oder?
Netzmann Andreas Müller-Alwart für netzfrauen.org
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