Brasilien wählt eine Präsidentin – oder einen Präsidenten?
Am 05.10.2014 fand der erste Wahlgang statt. Anstatt des erwarteten Kopf-an-Kopf-Rennens zwischen der amtierenden Präsidentin Dilma Roussef und der ehemaligen Umweltministerin Marina Silva, die sich aktiv für den Schutz des Regenwaldes und der darin lebenden indigenen Völker einsetzt, holte Aécio Neves auf. Zwischen ihm und Dilma Roussef wird es am 26. Oktober eine Stichwahl geben.
Unsere Netzfrau Maria May berichtet.
Meine Freundin war Wahlhelferin in der High School von Somerville, einer Nachbarstadt von Boston, wo 18 000 registrierte brasilianische Bürger wählen sollten.
Ich bin keine Brasilianerin und meine Kenntnis der brasilianischen Politik ist begrenzt. Aber ich empfinde diese Wahl als sehr wichtig. Soweit eine Wahl wichtig sein kann – am wichtigsten ist immer die Aktion der „einfachen“ BürgerInnen.
Hier in Massachusetts leben viele Brasilianer. Ich kenne Brasilianer, die kaum ihren Namen schreiben können – weil sie mit 8 oder 10 Jahren arbeiten mussten, um der Familie überleben zu helfen – und andere, die mir herablassende Kommentare über ihre Landsleute zum Besten geben – von der Überlegenheit ihres Reichtums und ihrer Bildung, herunterschauend auf die grobe ungebildete Masse.
Eine Freundin von mir, Biologieprofessorin in São Paulo, schön, charmant und eine bezaubernde Sängerin, sagte mir einmal, wie schrecklich die Präsidentschaft von Lula war. Luiz Inacio da Silva, Lula genannt, Vorsitzender der brasilianischen Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores), war Präsident von 2003 bis 2011. Er war eines der Kinder gewesen, die mit 12 Jahren anfangen mussten zu arbeiten. Er putzte Schuhe auf der Straße und verkaufte Kleinigkeiten. Mit 14 begann er mit der Fabrikarbeit und verlor mit 19 seinen linken kleinen Finger bei einem Arbeitsunfall in einer Autofabrik. Er musste zu mehreren Krankenhäusern laufen, bevor er eins fand, das seine Fingeramputation behandelte. Er trat der Metallergewerkschaft bei und wurde in der Zeit der Militärdiktatur Streikführer. Meine Freundin sagte, es sei eine Schande, dass er Präsident ist, weil er nicht reden könne. Sie meinte damit, dass seine Sprechweise nicht die kultivierte Aussprache und Grammatik der Oberschicht repräsentiert, sondern das Portugiesisch der brasilianischen Armen. Was für eine Schande!
Lula war der beliebteste Präsident in der Geschichte der brasilianischen Republik. Ein wichtiger Teil der Anerkennung und Unterstützung, die er bei den BürgerInnen genießt, kam von den Programmen der „Bolsa Familia“ und „Fome Zero,“ die seine Regierung verwirklichte. Diese Programme garantierten vielen hungernden Familien das Nötige zum Leben. Millionen weniger Kinder wurden zur Arbeit gezwungen und gehen stattdessen zur Schule [http://www.oxfam.org/sites/www.oxfam.org/files/cs-fighting-hunger-brazil-090611-en.pdf]. 20 Millionen Menschen wurden aus der Armut befreit. Die reiche weiße Oberschicht sah dies nicht gerne (müssten sie denn jetzt vielleicht höhere Löhne zahlen?). Aber Bürgerorganisationen und Anti-Hunger-AktivistInnen erzwangen die Akzeptanz der Umsetzung von Lulas Wahlprogramm, „Null Hunger“ in Brasilien.
Aufgrund der Erfolge dieser Programme, durch direkte Barzahlungen an die Ärmsten und durch Unterstützung von Kleinbauern (die die meisten Lebensmittel für Brasilianer produzieren) den Hunger zu vermindern und Schule und Gesundheit für Kinder an erste Stelle zu setzen, war Lula am Ende seiner Amtszeit so beliebt, dass er seine Nachfolgerin effektiv aussuchen konnte. Er suchte Dilma Roussef aus, Tochter wohlhabender Eltern und Parteigenossin der Arbeiterpartei, die in den 70er Jahren als Guerilla im Widerstand gegen die brasilianische Militärdiktatur gefangen und gefoltert worden war. Dilma wurde 2010 zur Präsidentin gewählt.
Lulas Gedankenwelt war in der Metallergewerkschaft geformt worden. Die Programme, die er umsetzte, halfen auch den Armen im Amazonas. Aber der Schutz des Regenwaldes, von dem und in dem die Caboclos des Amazonas (die Kinder der indigenen Ureinwohner, der armen Portugiesen und der schwarzen Sklaven, die einander heirateten) leben, liegt seiner Gedankenwelt fern. Ebenso Dilma: sie ist studierte Ökonomie und ein wichtiger Teil ihrer Ideologie entstammt dem Marxismus. Dass ein besseres Leben für die Menschheit, für Brasilianer, vom Wissen der Indigenen abhängen könnte, liegt ihr absolut fern. Sie denkt in Bezugspunkten des Fortschritts durch Industrialisierung. Präsidentin Dilma drückte den Staudamm Belo Monte durch, der einen riesigen Teil des Regenwaldes im Staat Para vernichten wird, wenn der Xingu Fluss über seine Ufer tritt. Viele indigene Gemeinschaften werden ihre Heimat verlieren. Das Wissen dieser Menschen von Pflanzen und Tieren ihres Regenwaldes wird verlorengehen und sie selbst werden in entwurzelte städtische Bettler verwandelt werden.
Dass Dilma einen effektiven Genozid vorantreibt, liegt daran, dass die brasilianische Arbeiterbewegung und der Kampf der Indigenen und Caboclos um den Schutz des Regenwaldes, getrennt und teilweise feindlich gegeneinander stehen. Warum?
Wir können dies in Deutschland vielleicht ein bisschen nachvollziehen: Die Umweltschutzbewegung und die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung in Deutschland sehen oft auch nicht, dass sie voneinander abhängen und dass ihre Gegner dieselben sind: die kleine Minderheit, die sich nicht scheut, die Lebensgrundlagen aller und die Gesundheit ihrer Arbeiter zu vernichten, um ein paar Millionen Euro oder Dollar mehr zu verbuchen.
Ein weiteres Hindernis für die Indigenen und Caboclos wie der ermordete Kautschuksammler Chico Mendes, die den Wald schützen wollen, ist der alles beeinflussende Rassismus in Brasilien. Ganz unten in der brasilianischen rassistischen Hierarchie stehen die Indigenen: Sie werden noch mehr verachtet und misshandelt als die schwarzen Nachkommen der Sklaven. Die Indigenen werden als Säufer, Faulenzer, Primitive, als Affen, Tierchen und Nichtstuer bezeichnet. Was könnte von ihnen zu lernen sein? Während sicher kein Mitglied von Dilmas Regierung dies so aussprechen würde, ist ebenso sicher, dass jeder, der sich nicht ausdrücklich gegen die Missachtung der Indigenen wendet, unbewusst vom selben Rassismus beeinflusst ist.
Dilma hatte in der Wahl am 05.10.2014 zwei Gegenkandidaten: den Enkel einer prominenten Familie, Aécio Neves von der „Sozialdemokratischen Partei,“ der den „Management Shock“ in seinem Heimatstaat Minas Gerais durchsetzte, um Sozialausgaben zu kürzen und ein investitionsfreundliches Klima zu schaffen und Marina Silva, Tochter einer bitterarmen Familie im Amazonas und Mitarbeiterin von Chico Mendes.
Marina ist eines von elf Kindern und hatte als kleines Mädchen fünf Malaria-Attacken. Sie litt an einer Vergiftung durch Schwermetalle und bekam Hepatitis. Sie hatte erst mit 16 Jahren Gelegenheit, lesen zu lernen. Sie ist eine geniale Frau und widmet ihr Leben der Verteidigung des Regenwaldes und der Gemeinschaften, die im Wald leben.
Ich werde mehr über Marina und die brasilianische Präsidentschaftwahl schreiben. Lest gerne hier http://inside-favela.com/marina-silva-von-der-kautschuksammlerin-zur-prasidentschaftskandidatin/ und hier http://www.greenpeace-magazin.de/magazin/archiv/5-13/brasilien-nachaltige-ideen-im-regenwald/
Nur so viel: Meine Meinung ist, dass das Fällen des Amazonaswaldes aufhören muss. Die Rinderweiden, die McDonald’s bedienen und die Staudämme, die den abgeholzten Wald überdecken, müssen gestoppt werden. Davon ist jedoch nichts in Sicht.
Netzfrau Maria May
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