Der Trend zum Selbstgemachten reicht vom Gartenbau bis zum Verlagswesen. Ein Einblick in die gravierenden, spannenden und insgesamt positiven Veränderungen. Freiheit für die Bio-Tomaten. Freiheit für die Gedanken, die Meinungsfindung und die Bildung.
Ein Buch wie ein Tagtraum
Diese unbändige Lust. Dieses Prickeln. Das Lechzen. Die Vorfreude. Und dann währenddessen: Das Loslassen des Alltags, das Genießen, das tiefe, phantasievolle Eintauchen in eine Geschichte. Glückshormone werden ausgeschüttet: Endorphine.
Nichts, das den Fluss von Gedanken, Bildern und Phantasien unterbrechen konnte, keiner, der wirklich dabei stören konnte. Genuss pur – Leidenschaft pur. Diesen „Flow“ kennen nur Leser, es gibt ihn nur beim Lesen, jedenfalls nicht beim Fernsehen oder Video schauen.
Ein gutes Buch, eine gute Zeitschrift ist seltener geworden, aber ist jedem Fernsehbeitrag bei weitem überlegen.
Beim Lesen eines guten Buches oder Artikels entsteht eine fast intime Beziehung, eine Vereinigung zwischen Text und Leser. Bei einem guten Text stellt sich eigentlich gar nicht die Frage, wem der Text gehört, denn ein Meister der Sprache ist jemand, der den Leser in seine Zeilen so tief eintauchen und am Geschehen teilhaben lässt, dass der Autor die Hoheit über die gedanklichen Gebilde, die beim Leser entstehen, ganz oder teilweise verliert.
Der Leser hängt zwischen den Zeilen und darüber in Tagträumen nach, lässt die Charaktere bildhaft werden, animiert die beschriebenen Szenen und findet sich empathisch im Gedruckten wieder. Das gilt nicht nur für Liebesromane, Abenteuerromantik, historische Schinken – nein: Dieses Eintauchen in die Welt des Autors ist bei jedem Genre möglich. Ein guter Sachbuchautor oder Wissenschaftsjournalist zeichnet sich eben gerade dadurch aus, eine komplexe, schwer verständliche Welt dem Leser alltagsfreundlich, spannend und amüsant näher zu bringen.
Wer sich in ein Thema verliebt hat und darin aufblüht, ist als Autor in der Regel auch in der Lage, diesen Funken der Begeisterung auf die Leser überspringen zu lassen.
Wer jedoch nur gegen Geld Auftragsarbeiten erstellen muss, wer nicht für Qualität, sondern nach Menge und Zeit (Geschwindigkeit) bezahlt wird – und dies ohne Ansehen der Inhalte und des Stiles, der wird seinen Lesern nur eher zufällig dieses Glücksgefühl bereiten können.
Ökonomisierung vor Kunst und Bildung
Die Ökonomisierung des Journalismus, die es schon seit Jahrzehnten gibt und die anfangs zu einem normalen Verdrängungswettbewerb führte, hat sich radikal durch das Internet beschleunigt. Es geht um weit mehr als die Frage, wie zukünftig mit Bild und Text im Web Geld verdient werden kann und ob der uns bislang bekannte Journalismus diesen Umbruch überlebt.
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Es geht – wie so oft im Internet – vielmehr um die Frage, wem gehört etwas und wer darf es in welcher Form nutzen. Internetuser haben weitgehend unbegrenzten Zugang zu Millionen von Texten – zu Lexika wie Wikipedia, zu statistischem Hintergrundmaterial wie bei destatis.de, zu Büchern wie bei google.de und zu vielen Webseiten von einst reinen Printmedien. Die User haben Zugang zu vielen Videos und Blogs und sie sind einerseits auf der Suche nach Unterhaltung, andererseits auf der Suche nach Wahrheiten und Hintergründen.
Viele Printmedien haben es verschlafen, diese Hintergründe und Zusammenhänge darzustellen und sich dadurch ein Alleinstellungsmerkmal zu verschaffen. Sie haben es verschlafen, ihre Art der Recherche und Wahrheitsfindung den Lesern plausibel und transparent zu machen. Schlimmer noch: Sie vergraulten oftmals die Leser durch Weglassen oder Verzerren wichtiger Informationen.
Dies taten sie in einer Zeit, in der ihre Thesen und Berichte für jedermann nachprüfbar wurden.Sie taten dies in einer Zeit, in der jedermann in Chats, Blogs, Foren und vor allem in den sozialen Medien andere Thesen aufstellen und die Nachhaltigkeit der einstigen Wortführer, der Printmedien, in Frage stellen konnte. Die Diskussionen waren zudem außerhalb der Kommentarwelten der Printmedien aussagekräftiger, kontroverser und sie waren erkenntnisreicher.
Dabei darf nicht verschwiegen werden: So manche dort geführte Debatte glitt von einer qualitativ hochwertigen Diskussion ab in emotional-persönliche Angriffe und endete in anonym geposteter Vulgärsprache – das pure Gegenteil des Qualitätsjournalismus, wobei die jeweilige Diskussionsrunde auch diese meist anonym erstellten, verbalen Entgleisungen recht rasch in die Schranken verwies. Was bleibt, ist bei den Usern bzw. Lesern die Erkenntnis: Die Profi-Journalisten wissen es oft nicht anders und meist nicht besser als die vielen User im Netz.
Fließgleichgewicht von Inhalten und Meinungen
Es kommt hinzu: Es gibt wohl nicht nur eine Meinung (Surprise! Surprise!), sondern man kann ein Thema unter verschiedenen Lebensauffassungen und ideologischen Färbungen dialektisch diskutieren. Das wiederum führt zur aufregendsten Erkenntnis: Alles ist in Bewegung, es gibt sie nicht, die eine, allheilbringende, richtige Meinung. Es gibt immer nur Momentbetrachtungen und alle Betrachtungen sind gefiltert durch die Denkweise des Schreibenden ebenso wie durch die Abstraktionen des Lesenden. Wenn doch aber alles im Fluss ist, wozu benötige ich dann noch gedruckte Buchstaben. Bis diese trocken sind und auf Papier ausgeliefert werden, ist die tagesaktuelle Diskussion längst ganz woanders angelangt. Was es an grundsätzlichen Erkenntnissen in der Welt zu erforschen und zu erlesen gibt, findet sich von jeher besser in allerlei Klassikern wieder und davon wiederum befinden sich viele heute als gescannte Dateien in Online-Bibliotheken.
Wozu also eine gedruckte Tageszeitung? Twitter ist schneller, Bücher sind nachhaltiger und intensiver, Blogs sind ebenfalls schneller, oftmals authentischer und eigentlich immer dialektischer in der Darstellung.
Es geht nicht nur ein Geschäftsmodell verloren
Was hier den Verlagen verloren geht, ist nicht nur einfach ein Geschäftsmodell. Hier geht die Hoheit der Verlage verloren, Meister des Inhaltes, Quelle der Meinungsbildung und Förderer der Wahrheit zu sein. Meint die Frankfurter Allgemeine Zeitung dazu: „Die Zukunft des Journalismus entscheidet sich hier und jetzt!“ Nur mit Größe und Qualität – so meinen die Verlage – und mit der ständigen Suche nach neuen Geschäftsmodellen, könnten sie noch überleben.
Doch selbst wenn sie ein Geschäftsmodell finden: Sie werden nie wieder die Chefs des Inhalts, die „Master of Content“ sein. Dies liegt nicht nur an den Fehlern, die sie in der Vergangenheit gemacht haben, sondern hängt auch damit zusammen, dass durch das Internet das Wissen der Vielen strömt, gleichzeitig und im selben Raum. Das Internet ist angefüllt mit Experten, die an einem Thema zeitlich oder räumlich näher dran sind, die es kontinuierlicher bearbeiten und die es oftmals besser verstehen.
Die Vermittlerfunktion von Journalisten – vor allem bei komplexen Themen – wird zunehmend und sehr rasch abgelöst durch einfache Bürger wie Du und ich, die zu ihrem Hobby, Fachgebiet oder anderen uns bewegenden Themen, viel praxisnäher, verständlicher und lebhafter schreiben. Warum denn auch sollte der Trend zu „Prosumenten“ (Konsumenten, die gleichzeitig etwas produzieren) gerade vor dem Onlinejournalismus halt machen?
Auf dem Weg vom Amateurjournalismus zum gestalteten Profijournalismus gibt es nur noch eine Barriere, die haben aber schreibende Leser wie bei Profijournalisten zu überwinden: Es ist die Barriere des Zugangs zu Primärdaten, zu den echten, unverfälschten und möglichst aktuellen Statistiken, die für die meiste Berichterstattung essenziell sind. Auch dies ist – von wenigen Ausnahmen abgesehen – im schnelllebigen Journalismus oft eher eine Schwachstelle, eher ein Minus als ein Plus der Profiautoren. Denn gerade für nachhaltige, aufwändige Recherchen fehlt auch ihnen die Zeit. Viele Zugänge zu unabhängigen, aktuellen Recherche-Datenbanken sind teuer, Suchanfragen sind zeitaufwändig wie auch die grafisch ansprechende Aufbereitung der Rohdaten.
So werden letztlich gerne mit Handkuss gut aufbereitete Grafiken und Statistiken der PR- und Nachrichtenagenturen immer häufiger völlig unreflektiert und unbearbeitet an den Leser weitergegeben. Also sind die Redaktionen auch an dieser Stelle – unter Zeitdruck und ökonomischem Druck stehend – nicht besser dran als manche Freizeit-Blogger.
Die statistischen Quellen und die Plausibilität der Daten kann der Leser im Printmedium fast nie nachvollziehen oder nachprüfen. Und so mancher Journalist schaut vielleicht neidisch auf den einen oder anderen Blog, weil dessen Autor den Blog als Hobby betreibt und einfach viel mehr Zeit und einen besseren Zugang zu Informationen hat.
Hinzu kommt: In den Blogs tummeln sich immer mehr Gleichgesinnte und Experten. Dort werden Themen häufig völlig unabhängig von einer Tagesaktualität über Monate in einer unvorstellbaren Vielschichtigkeit und Tiefe diskutiert. Echte Bildung, echte Meinungsbildung ist dort möglich. Bildung entsteht ja gerade nicht durch das reine Lesen eines Inhaltes, sondern durch die Beschäftigung mit dem Gelesenen und durch das Nachdenken darüber.
Der Erkenntnisgewinn hieraus ist durch keine Tagespresse der Welt zu ersetzen. Dies umso weniger, als Zeitungen mit hohem dialektischem, meinungsbildendem Anspruch allesamt vom deutschen Markt verschwunden sind – allen voran „Die Woche“ und die „Financial Times Deutschland“. Stattdessen gibt es immer mehr kleine Fachmagazine, die günstig per PDF produzieren oder die auch im hochpreisigen Segment ihre Leser finden. Etablierte Redaktionen, die seit Jahren auf einen qualitativ hohen Anspruch und auch investigativen Journalismus setzen, haben auch in einer Onlinewelt als „Offline-Printmagazin“ weniger Probleme als andere Magazine.
Die „Wirtschaftswoche“ und vor allem „Brand Eins“ sind sicherlich solche Ausnahmen, wobei „Brand Eins“ als gedrucktes Medium geradezu einen „haptischen Kultcharakter“ hat. Man kann hier die Textqualität riechen und fühlen und dies gehört eben zum Gesamterlebnis so wie das Knistern einer Langspielplatte eben ein besonderes Prädikat sein kann. Wir hatten es schon davon: Ein MP3-File knistert nicht und ein PDF raschelt nicht beim Umblättern.
Die Öffentlichkeit befindet sich im Strukturwandel
Das ist allerdings eine Nische, die dem Internet noch eine Weile verborgen bleiben dürfte. Internetseiten riechen nicht und lassen sich nicht anfassen. Ein Thema, das auch die TV-Macher immer wieder als Nachteil empfinden, wobei derzeit die haptische Interaktion zwischen dem Benutzer eines Smartphones und einer Website bei Weitem höher ist als die zwischen einer Fernbedienung eines Fernsehzuschauers und dem gezeigten Bild.
Allein der Wischeffekt ist auf Seiten des Smartphones im Haben zu verbuchen. Doch bleiben wir mal nur beim Text, nur beim Content. „Es findet ein umfassender Strukturwandel der Öffentlichkeit statt, in dessen Verlauf die gedruckte Presse das Informationsmonopol und die Hoheit über die Meinungsbildung verloren hat“, schreibt Thorsten Hinz für das selbst recht junge Printmedium „Junge Freiheit“.
Das Bemerkenswerte an diesem Zitat kann leicht überlesen werden: Nicht die Verlagswelt strukturiert sich um, sondern allem voran strukturiert sich die Öffentlichkeit um. Das Internet hat also zu einem Wandel der Struktur der Öffentlichkeit geführt und dies bedingt einen Strukturwandel der Verlage. Das Ansinnen, die Verlage zu einem Internetunternehmen zu wandeln, ist deswegen per se der falsche Ansatz, weil der Strukturwandel der Öffentlichkeit das Verlagswesen insgesamt in Frage stellt – jedenfalls auf die bisherige Vorherrschaft über den Content. Die Verlage sind jetzt Teil des Internets und somit Teil der Öffentlichkeit, sowie eben auch die Inhalte frei zugänglich sind.
Inhalte fließen zwischen Leser und Autor hin und her – die Rollen vermischen sich
Die Macht über den Content ergießt sich vom Verlagswesen in die Onlinewelt zu den Internetprotagonisten und erstmalig erlebt auch die Meinungsbildung so etwas wie ein ökologisches Fließgleichgewicht. Es gibt keine statische Meinung, sondern sie wird ständig neu modelliert und dies im Kontext mit allen Usern des Internets. Das war schon immer so, wird aber jetzt mit atemberaubender Geschwindigkeit global transparent. An den Schnittstellen dieser meinungsbildenden Gruppen werden Konflikte über Ursachen, Wechselwirkungen und Zusammenhänge ausgetragen. Es wird gestritten, aber nicht gekämpft.
Richtige Wege werden gesucht und viele neue Möglichkeiten werden gefunden, die ständig angerissen, sogleich wieder vom konservativen Mainstream in der Meinungsbildung zerrissen werden, um dann doch als neue Idee irgendwo in Nischen, kleinen „Foren-Biotopen“, geschützt vor dem Massenansturm der Mainstream-Meinungen und im kleinen Kreis weiter gedacht zu werden: Oft so lange, bis sie sich wieder als mehrheitsfähig erscheinende neue Vision und mit längerer Version im Web 2.0 festsetzen.
Evolution und Epigenetik von Inhalten
Es ist eine Art Evolution des Contents – eine Art Quantenphilosophie der Inhalte. Das Internet ist wie das „Meer der Inhalte“ – entsprechend dem „Meer der Möglichkeiten“ bzw. dem PSI-Feld des Universums in der Quantenphilosophie. Dort schöpft die Internetgemeinde ununterbrochen Teilaspekte ab, manifestiert Meinungen für eine gewisse Zeit mit ihren Gedanken und Diskussionen, materialisiert diese in Textbeiträgen in Blogs und Foren.
Mal bildet sich dann ein Meinungsbild, das längere Zeit Bestand hat, mal verschwindet dieses materialisierte Bild wieder im Meer der Möglichkeiten – also im Internet. Dort ist immer alles vorhanden, aber wir sehen nicht immer alles, wir erkennen nicht immer alle Zusammenhänge und wir finden nur das, wonach wir suchen. Was wir finden, hängt von der Frage ab, die wir uns und der Suchmaschine stellen. Je ungewöhnlicher, je seltener die Fragestellung, desto schwieriger wird es, die Antwort zu finden, aber desto spannender wird es auch, sie zu finden. Man könnte frei nach Saint-Exupéry „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, für die Onlinewelt formulieren: „Man sieht nur mit der Suchmaschine gut.“ In beiden Fällen gilt. Man kann nur das sehen, was man auch sehen will.
Das Internet fördert diese freie Suche und Sichtweise – Printmedien und TV hingegen fördern diese nicht. Im Gegenteil: sie lenken permanent auf die festgefahrenen Gedanken des Alltags und lenken permanent vom Hinterfragen des Gesehenen und Gelesenen ab.
Unsere Gedanken bestimmen die Inhalte
Für das Internet gilt das Gleiche wie für das „Meer der Möglichkeiten“, für die Interwelt der Quantenphilosophen: Alles ist möglich, alles ist immer irgendwie da, aber alles ist abhängig vom Betrachter. So wie er sucht, so findet er. So wie er die Beiträge im Web betrachtet, so wird er bestätigt oder widerlegt. Einst waren die Verlage die beständige Konstante, die Basis für alle Inhalte, die in verschiedenen Varianten aufbereitet wurden. Ob ein Inhalt dann als Bild-Reportage in einer Illustrierten, als Kurzmeldung in einer Tageszeitung, als Dossier in einer Wochenzeitung erschien oder dem Leser gar nicht vermittelt wurde, dies war alles eine Entscheidung von wenigen Redakteuren und Verlagen.
Die Verlagswelt war die DNA der Meinungsbildung, die Medienformate waren nur die epigenetischen Schalter, die das eine Thema mehr, das andere weniger reißerisch aufbereitet und somit die Leser beeinflusst haben. Auch diese Hoheit über die Medienformate haben die Verlage weitgehend verloren. Im Internet finden sich praktisch alle Themen multikanalfähig. Ein Teil der Leser ist begeistert von den Videowelten, andere vertiefen sich in die sozialen Medien oder reine Blogs. Oftmals macht gerade die Kombination – möglichst interaktiv – gerade den besonderen Reiz aus.
„Video kills Print“
Da sind wir bei einem weiteren Aspekt, der den Profijournalisten entglitten ist: Video kills Print. Kurze Bild- und Videobeiträge liegen im Trend. Neben Textbeiträgen und Fotostrecken sind es vor allem die zahlreichen, didaktisch oft hervorragend aufbereiteten Videos – allen voran die Erklär-Videos – die innerhalb kürzester Zeit komplexeste Inhalte verständlich und einprägsam aufbereiten können.
Das Medium Video (Internetvideo) ist zurzeit auch dem Fernsehen bei Weitem überlegen, jedenfalls noch so lange, wie die Mehrzahl der User kein internetfähiges Fernsehgerät hat. Denn ohne Internet ist ein Fernsehbeitrag nicht viel mehr als eine kontinuierlich ablaufende Präsentation, die nicht mal eben gestoppt und bei der nicht mal eben zurückgespult werden kann, wenn man etwas nicht verstanden hat oder kurz in Gedanken gedöst hat.
Es gibt viele mehrstündige Videos im Internet, die eine „Ansichtsquote“ von weit über 100 Prozent haben: Das Video wurde von demselben Benutzer mehrfach gesehen und/oder es wurden Teile des Videos mehrfach betrachtet. Messbar ist auch, wie viele User den Beitrag nicht zu Ende sehen und abbrechen. Die Fernsehgesellschaften sind hier immer noch weitgehend blind. Sie wissen aber nach wie vor nicht, welcher Zuschauer welchen TV-Beitrag gesehen hat. Die Einschaltquoten sind Hochrechnungen, deren Werthaltigkeit seit Jahren in der Diskussion steht.
Die Printmedien hingegen wissen nur über Umfrage und Leserbriefe, wer sie liest und was gelesen wird. Nur das Web aber ist in der Lage, eine Echtzeitmessung zu liefern. Eine Messung über die Anzahl von Klicks, die Verweildauer der Zuschauer oder gar eine Bewertung der Beiträge wie im Internet üblich, ist beim Fernsehen derzeit nur für wenige Zuschauer, die Internet und Fernsehen integriert haben, möglich.
Der Qualitätsjournalismus der Verlage wird grundsätzlich in Frage gestellt – ebenso wie der Aspekt der Bildung
Den Profis geht also nicht nur die Hoheit über den Content verloren, sie verlieren auch den Überblick über ihre Printleser. Zudem geraten sie in der Welt zwischen Print- und Onlinecontent auf einer Gratwanderung unterschiedlichster Erwartungen ins Schlittern. Derzeit erleben wir, wo diese Rutschpartie endet: Weder der Onlinecontent noch der Printcontent heben sich wirklich durch bessere Qualität, höheren Wahrheitsgehalt oder andere elementare Kriterien von dem ab, was die Internetgemeinschaft selbst produziert.
Thorsten Hinz meint dazu: „Die als Agenturmeldungen getarnten, volkspädagogisch intendierten Einheitsartikel häufen sich.“ Damit sind wir beim nächsten Aspekt, den die Verlage nicht verstanden haben: Der Strukturwandel der Öffentlichkeit bezieht sich nicht nur auf die Meinungshoheit, sondern die Internetgemeinde ist längst bei den Wurzeln des Übels angelangt: Bei der Bildung.
Hatten Printmedien und Fernsehen noch einen Anspruch auf Bildungsvermittlung, so wird ihnen dieser Anspruch inzwischen völlig aberkannt – jedenfalls bis auf wenige Sendeformate, die 3SAT, ARTE und sogenannte „Dritte Programme“ anbieten. Schlimmer noch: Fernsehen wird als Zeitfresser und ständige Verblödungsmaschinerie empfunden. Die Anzahl derjenigen, die keinen Fernseher mehr als Möbelstück in der Wohnung stehen haben, nimmt zu und folgt proportional dem Trend derjenigen Menschen, die ihre Ernährung umstellen und z. B. Vegetarier werden.
Print und TV verlieren nicht nur die Meinungshoheit, sondern auch die Bildungshoheit. Die Veränderung ist aber noch tiefgreifender. Je weniger wahrheitsfördernd und unabhängig berichtend sich Print und TV darstellen, desto mehr werden sie als staatsnahe Organe empfunden. Da sind zum einen die Allianzen führender Journalisten mit staatlichen Organisationen wie die „Atlantik-Brücke“ zu nennen und zum anderen die fehlenden anderslautenden Meinungen. Man munkelt, dass bei heiklen Themen Journalisten erst einmal die führende Meinung einer Süddeutsche Zeitung oder Frankfurter Allgemeine Zeitung sondieren und sich dann – auch dies unter anderem aus Zeitgründen – sehr gut überlegen, ob sie sich die Mühe machen, eine andere Meinung mit viel Aufwand zu recherchieren, zu Papier zu bringen und dies letztlich auf die Gefahr hin, allein auf verlorenem Posten angegriffen zu werden.
Auf der Suche nach Wahrheit und Erkenntnis – gerade zum Zwecke der Bildung – sind viele Mitglieder der Internetgemeinde abgewandert von Print und TV in das „Meer der Möglichkeiten“. Sie haben sich zum Beispiel die zahlreichen Youtube-Videos von Vera F. Birkenbihl, Professor Gerald Hüther, Professor Richard David Precht u. v. a. m. angesehen. Sie wissen:
In der Bildung läuft etwas Grundlegendes verkehrt – sowohl bei den vermittelten Inhalten als auch bei der Art der Vermittlung. Viele spüren auch, wie sehr in den Schulen Spiritualität und Empathie als Balance bzw. Förderer des Lernspaßes und der Erkenntnis fehlen.
Lernen ist heute Stress. Mobbing und Prügeleien an Schulen sind die Regel – nicht die Ausnahme. Das Notensystem ist ein Auslesesystem – ein typisches System, mit dem die jungen Leute lernen, sich gegenseitig auszuspielen, gegenseitige Konkurrenz zu erleben, diese zu ertragen und letztlich zu leben. Doch die konkurrierende Gesellschaft ist angesichts übergreifender, weltweiter Probleme nicht mehr tragfähig. Sie hat zunehmend keine Akzeptanz mehr. Gleichzeitig bleiben bei dieser Art der Bildung Ethik und Moral auf der Strecke – mit fatalen Folgen für die junge Generation.
Völlige Empathielosigkeit wird herangezogen, Egoismus ist ein Lernziel und Altruismus wird geradezu als Warmduscherei abgetan und aberzogen. Kein Wunder, dass viele Eltern auf der Suche nach Bildungseinrichtungen sind, die dieses Konkurrenzprinzip vermeiden und mehr Spiritualität, mehr Empathie, mehr moralische Werte und mehr Kooperation fördern.
Selbstbestimmte Gedanken anstelle von vorgefertigter Meinung
Gleichzeitig erhalten die Leser immer mehr Erkenntnisse darüber, wie wichtig es ist, Herr seiner eigenen Gedanken zu sein. Die Dauerberieselung mit bedeutungslosen Themen, die gleichermaßen über das Fernsehen wie über die Printmedien erfolgt, lenkt häufig von eigenen guten Ideen, vom eigentlichen Sinn des Lebens und von einer selbstbestimmten Lebensführung ab. Damit sind wir beim letzten, einem sehr wichtigen Trend, den die einstigen Herren des Contents übersehen haben oder nicht sehen wollen? Die Zeiten der Bevormundung und Fremdbestimmung sind vorbei.
Die Menschen bauen die Tomate wieder selbst im Garten an und für den Content gilt zunehmend das Gleiche: Auf gemeinsamen Informationsfeldern die Saat für Wahrheit und Freiheit zu säen. Es ist doch so: Für den Reifegrad einer selbst angebauten Tomate und für deren wunderbaren Geruch und Geschmack ist es völlig unerheblich, über welche EU-Tomatenverordnung die Tagesschau berichtet, was die Süddeutsche dazu kommentiert und was Frau Merkel und Herr Gabriel dazu zu sagen haben.
Um im Bild zu bleiben: Was die Politiker mit ihren Tomaten auf den Augen zu verkünden haben, interessiert mehr als die Hälfte der Bevölkerung nicht mehr – siehe Wahlbeteiligungen. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ist vergleichsweise unbedeutend für unsere eigene kleine Tomatenzucht. Sie kennt den Index nicht, sie will nur ausreichend bewässert werden. Ob das Bruttoinlandsprodukt wächst, ist für den Hobby-Tomatenbauer weniger aufregend als die Ernte und der Genuss des eigenen Biogemüses.
Keiner glaubt mehr an ein endloses Wirtschaftswachstum oder an eine Vollbeschäftigung, was Politik und Medien aber immer noch als Maxime predigen. Wenn Print und TV also verkünden, was die Regierung und irgendwelche Statistik-Apostel uns mitteilen möchten, so findet das keine Beachtung mehr.
Ständig die gleichen, nicht nachvollziehbaren, häufig manipulierten Statistiken. Noch dazu zu Kennzahlen, deren Wert für den Sinn des Lebens eines einzelnen Bürgers völlig wertlos ist. Wie viel sinnvoller ist da das „Erklärvideo“ zum Thema „Mein erster Tomatenanbau“. Wie viel erkenntnisreicher ist da ein Buch zu dem Thema. Und wie viel spannender ist es, sich in Forum, Blog oder in den sozialen Medien praktische Tipps zu holen. Den Printmedien fehlt häufig der Tiefgang, die Individualität und die Ehrlichkeit. Gerade das aber fordert der Strukturwandel der Öffentlichkeit. Mit Tracking (siehe meinen Bericht „Spurenleser Web 2.0“) ist einem solchen Strukturwandel nicht zu begegnen.
Wie lange gibt es Print noch?
Wenn heute orakelt wird, dass herkömmliche Zeitschriften und Zeitungen bis 2017 in den USA und bis 2030 in Deutschland ganz verschwunden sein werden, so mag das so sein. Es spricht aber derzeit eigentlich nichts dafür, dass diese papierene Welt noch so lange erhalten bleiben sollte – außer eben dass Papier so gut riecht und sich so gut anfühlt. Bücher mögen noch viele Jahrzehnte nicht wegzudenken sein. So wie Langspielplatten auch heute noch einen ganz eigenen, besonderen Wert haben und nicht völlig verdrängt werden konnten.
Eine Langspielplatte hat ja auch eine ganz eigene Qualität. „Bei diesem Knirschen und Hüpfen des Tonarms von Pink Floyds Song Money haben Papi und Mami Dich damals gezeugt …“ wird da dem Sprössling erklärt, der ungläubig die Augen rollt und sich entsetzt über die altertümlich wirkende Romantik seiner Erzeuger die Kopfhörer aufsetzt und den MP3-Player lauter dreht. Da knirscht und springt nichts – egal wie die Bude wackelt. Dass jemand mit einer gedruckten Ausgabe von „Die Bunte“ ein ähnlich nostalgisches Erlebnis verbindet, scheint eher selten der Fall zu sein.
Eher bleibt da die Sehnsucht an die gute alte „Bunte“. Ein einst großformatiges, durchgängig mit Bildreportagen durchzogenes Magazin auf hohem Niveau. Anstelle von Königshäusern und Promitratsch waren die Reporter dicht am Schah von Persien, standen hinter Adenauer oder fotografierten aus (!) der brennend abstürzenden Militärmaschine. Was sonntags passierte, war auch spätestens Donnerstag im Heft. Heute wissen wir schon – noch während die Maschine fliegt – per Twitter, dass uns diese gleich auf den Kopf stürzen könnte. Bis wir zuhause angelangt sind, sehen wir schon die ersten Videos im Netz. Sicherlich auch kein Qualitätsjournalismus, zeigt aber:
Zur verlorenen Meinungshoheit, Bildungshoheit und dem verloren gegangenen Wahrheitsanspruch gesellt sich auch noch die Tatsache, dass auch der Entertainmentaspekt der Printmedien vom Web 2.0 überholt wurde.
Ob denn die Leser bereit wären, für gute Inhalte und Qualitätsjournalismus zu bezahlen und wie man das gestalten könne. Darüber wird scheinbar endlos debattiert und diskutiert – mittlerweile sind weit mehr als 10 Jahre ins Land gegangen, seit der Strukturwandel begann. Wie mager sind die Ergebnisse. Dabei muss man sich nur mal ein einziges – nur eines von hunderten – Beispielen im Web ansehen, um zu begreifen, dass gute Inhalte bezahlt werden – und zwar freiwillig und auch nachträglich. Youtube-Television werden quasi alleine gestaltet, haben hohen Zuspruch und wird eben von jenen finanziert, die keine Tomaten auf den Augen, aber mit Sicherheit im Garten haben, von den neuen Damen und Herren der Meinungs- und Bildungshoheit, von den „Masters of tomatoes and content“.
Die Philosophie dahinter ist übrigens sehr ähnlich: Selbstgemachtes schmeckt besser und man weiß, was man isst, weil man sich selbst damit beschäftigt hat. Das gilt nun ebenso für Tomaten wie für Inhalte. Wenn ich auf die Entstehung der Inhalte vertrauen kann und mich damit wirklich auseinandersetzen kann, ist der Genuss ein ganz anderer, als wenn staatsnahe Verkündigungsorgane die immer gleichen Phrasen dreschen.
Zum Schluss etwas Salz in die Suppe dieser neuen, heilen und ach so freiheitlichen Content-Welt im Internet: So ganz frei von Macht und Bevormundung ist das Web 2.0 ja nun auch nicht mehr. Beherrschten einst Verlage das Meinungsbild in unterschiedlichen Printformaten, so haben wir es heute mit einer Marktmacht aus Suchmaschinen und Social-Media-Unternehmen zu tun.
Hier wäre es nun an der Zeit, dass die neuen Damen und Herren des Contents und Tomatenanbaus prüfen, auf welchem Boden sie ihre Saat ausstreuen, mit welchem Wasser sie wässern und welchen Ursprungs Kompost oder Dünger sind, den sie einsetzen. Der nächste Strukturwandel – und der läuft bereits – wird nämlich vor allem zu einer Entscheidung darüber führen, ob das Web 2.0 so frei und offen bleibt, wie es ist, oder ob die ehemaligen Verbündeten der Meinungs- und Bildungshoheit zusammen mit den Newcomern des eCommerce wieder eine beherrschende Rolle einnehmen werden.
Auch bei diesem Strukturwandel geht es um viel mehr als um Macht: Es geht um die Frage, ob das im Internet weit verbreitete Prinzip der offenen Kooperation wieder von einem übergestülpten konkurrierenden System manipuliert und womöglich wieder von einer herrschenden Klasse besessen wird. Ich glaube nicht an eine Rückkehr zu Fremdbestimmung und zu einer Herrschaft einzelner Firmen über Inhalte, Meinungen und Bildung.
Die neuen Herren von Content und Tomaten haben jetzt Appetit auf eigene Bildung gefunden und lassen sich nicht mehr bedingungslos berieseln.
© Andreas Müller-Alwart für Netzfrauen.org
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