»Wir trauern nicht, wir rebellieren.« In der Türkei gehen seit dem Mord an der Studentin Özgecan Aslan Frauen auf die Straße. Lautstark lassen sie ihrer Wut freien Lauf. Die Proteste, die durch den Mord an der jungen Studentin ausgelöst wurden, dauern inzwischen sechs Tage an und sie werden weiter protestieren: Frauen protestieren in der Türkei gegen sexuelle Gewalt.
Özgecan Aslan wurde am 13. Februar 2015 in einem Flussbett im südlichen Provinz von Mersin, Türkei gefunden.
Die 20-jährige Psychologiestudentin, die an der Çağ-Universität studierte, war, bevor ihr Körper verbrannt wurde, vergewaltigt worden, mit einem Eisenrohr geschlagen und ihre Finger waren bei lebendigem Leib abgeschnitten worden. Drei Männer wurden von der türkischen Polizei im Zusammenhang mit dieser brutalen Tötung festgenommen. Der türkische Premierminister versprach, diejenigen zu bestrafen, die für diese Tötung verantwortlich sind. Tausende Frauen versammelten sich in Istanbul, Ankara und Mersin, um gegen die Wirkungslosigkeit der Regierungspartei im Umgang mit der Gewalt gegen Frauen zu protestieren.
Özgecan Aslan: Kaltblütiger Mord löst Entsetzen in der Türkei aus
Özgecan Aslan verschwand am 11. Februar. Die 20-jährige Studentin wurde wenige Tage später gefunden: ermordet und schwer entstellt. Das grausame Verbrechen schockiert viele Menschen in der Türkei und darüber hinaus. Drei Tage nach ihrem Verschwinden wurde ihr Körper in einem Flussbett gefunden. Sie war offenbar so sehr entstellt, dass sie nur durch ihre Kleidung zu erkennen war. Einige Tage später wurde der Fahrer Ahmet Suphi Altındöken, 26, verhaftet und er gestand den Mord vor der Staatsanwalt im Tarsus Bezirk von Mersin. Sein 50-jähriger Vater, Necmettin Altındöken und der 20-jährige Freund Fatih Gökçe wurden auf Grund von Mittäterschaft verhaftet.
Özgecan Aslan wurde am Samstag auf dem Akbelen Friedhof in Mersin beerdigt. Ihr Sarg war zuvor in die alevitische Mersin Cemevi getragen worden, wo Angehörige und Freunde Abschied von ihr nahmen. Etwa 5000 Personen nahmen an der Beerdigung teil. Ihr Sarg wurde von Frauen getragen.
Die Gefahr, von einem Mann erschossen, erstochen oder totgeprügelt zu werden, ist für eine Frau größer, als bei einem Autounfall oder an Krebs zu sterben. Gewalt gegen Frauen sei die Haupttodesursache unter Frauen zwischen 15 und 44 Jahren in der Türkei.
Am Wochenende gab es Straßenproteste in Ankara, Istanbul und Mersin. Mehrere hundert Kleinbusse in Diyarbakir im Südosten wurden mit schwarzen Bändern geschmückt und trugen das Foto von Aslan. The Guardian berichtet, dass am Tag nach der Beerdigung der Hashtag #SendeAnlat („Erzähl auch du“) auf Social Media begann. Frauen teilten ihre persönlichen Erfahrungen mit sexuellen Übergriffen mit.
Auf Twitter bekundeten Tausende Menschen ihre Solidarität und ihr Entsetzen über die grausame Tat. Der Hashtag #ÖzgecanAslan war am Samstag Nachmittag auf Platz zwei und am Montag mit mehr als zweieinhalb Millionen Tweets der beliebteste weltweit. Etliche Twitter-Nutzer posteten sowohl Bilder des jungen Mädchens, ihrer Beerdigung als auch des Täters.
In der Türkei ist Gewalt gegen Frauen so alltäglich, dass die meisten Todesmeldungen gleichgültig oder mit bitterer Resignation aufgenommen werden. Sie ist ein Symptom für größere Geschlechterfragen innerhalb des Landes. Im World Economic Forum 2014 Gender Gap Report rangiert die Türkei auf Platz 125 von 142. Die Zahl der Morde an Frauen ist in den letzten zwei Jahren enorm angestiegen: Um fast 45 Prozent. Schon 2010 sorgte eine Statistik für Aufruhr, nach der sich die Zahl der ermordeten Frauen von 2003 bis 2010 mehr als verzehnfacht hat.
Der Mord an Özgecan Aslan löste nun landesweit Proteste aus sowohl auf den Straßen als auch im Netz. Die Proteste sind hauptsächlich weiblich. Die Frauen protestieren gegen eine Gesellschaft, die Gewalt gegen Frauen strukturell verharmlost, und gegen eine Regierung, die professionelles victim blaming im Wahlkampf einsetzt, also die weiblichen Gewaltopfer für die eigentlich Schuldigen erklärt.
Fast 300 Frauen wurden 2014 in der Türkei von ihnen verwandten Männern ermordet. Allein im Januar 2015 waren es bereits 27 geschlechtzusammenhängende Morde, die Hälfte von ihnen wurde durch häusliche Gewalt getötet.
Gleichheit zwischen Mann und Frau? Das könne es nie geben, denn es sei wider die Natur, sagte Erdogan im November. Gleichwertigkeit, das sei erstrebenswert. Aber nicht Gleichheit. Frauen seien beispielsweise für viele Arbeiten nicht geeignet. Und Erdogan hat auch eine Begründung parat: Das Wesen der Frauen und ihre körperlichen Voraussetzungen seien anders als bei Männern.
Nach dem brutalen Mord am 11. Februar an der Studentin Özgecan Aslan von Adana setzen sich türkische Frauen zur Wehr
Die Proteste gegen den Mord an Özgecan Aslan dauern an. Dieses Foto zeigt die Demonstration der Frauen am 15. Februar.
Die 20-Jährige war die letzte Passagierin in dem kleinen Minibus (Dolmuş). Doch statt zur vorgesehenen Haltestelle zu fahren, änderte der 26 Jahre alte Fahrer wohl die Route. Seiner Aussage nach versuchte er, Aslan zu vergewaltigen. Sie wehrte sich mit Pfefferspray und Fingernägeln, die Kratzspuren waren bei der Verhaftung noch im Gesicht des Fahrers zu sehen. Er überwältigte die junge Frau, stach auf sie ein und prügelte sie mit einer Brechstange zu Tode.
Diese Geschichte erinnert an Indien, auch hier löste die Vergewaltigung einer jungen Frau einen Protest aus, der bis heute anhält. [Lesen Sie dazu unseren Beitrag: Traurige Statistik: Frauen und Mädchen in Indien]
Laut einer Studie des türkischen Instituts für Sexualgesundheit haben vierzig Prozent der türkischen Frauen schon einmal Gewalt erfahren, zwanzig Prozent von ihnen sexuelle. Wird eine Frau in der Türkei vergewaltigt, dann ist ihr in zwei von drei Fällen der Täter bekannt – es ist ihr Ehemann, Liebhaber, Vater oder ein Verwandter. Gleichzeitig sind noch immer weite Teile der türkischen Gesellschaft davon überzeugt, dass eine Frau, die vergewaltigt wurde, dies provoziert haben muss. Auch die türkische Rechtsprechung zeugt von dieser Mentalität: Wird eine Prostituierte vergewaltigt, dann kommt der Täter mit einem blauen Auge davon, dabei bleiben Vergewaltiger ohnehin nie lange im Gefängnis. Die Frau hingegen gilt fortan als beschmutzt.
Selbst an Tagen der Kundgebungen, Kerzen an Gedenkstätten auf den Universitäten im ganzen Land und der internationalen Aufmerksamkeit werden weiterhin Frauen in der Türkei geschlagen, vergewaltigt und misshandelt. Wird die Türkei zukünftig Gesetze erlassen, damit Frauenrechte beachtet werden? In Indien hatte es erst nach den Protesten den Anschein, doch auch um die vergewaltigten Frauen in Indien ist es ruhig geworden, obwohl immer noch Frauen öffentlich vergewaltigt werden.
Wir wünschen den Frauen in der Türkei viel Kraft und werden sie bei ihrer Aktion unterstützen.
Unser Mitgefühl gilt der Familie und den Freunden von Özgecan Aslan.
„Die Freiheit ist wie eine unsichtbare Krone, die Ihr alle auf Euren Köpfen tragt, ohne es zu bemerken. Diese Krone ist nur für uns Gefangene sichtbar, denn wir dürfen sie nicht tragen!“
Reyhaneh Jabbari
Netzfrau Doro Schreier
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