Am 01.November 2015 ertranken wieder elf Flüchtlinge, darunter sechs Säuglinge. Ihr Boot kenterte vor der griechischen Insel Samos. Fünfzehn Menschen konnten gerettet werden. Es sind nur sieben km von der Türkei bis nach Lesbos. Die Flüchtlinge ertrinken vor unseren Augen, ein Verbrechen sondergleichen. Die Zustände auf der griechischen Insel Lesbos sind dramatisch und nicht nur hier.
Nur ein paar Tage später haben die Retter vor Libyen Tausende Flüchtlinge aus überfüllten Booten retten müssen, die sich auf den Weg nach Italien gemacht hatten, so die dortige Küstenwache. Auch wenn das Meer auf Grund der kalten Jahreszeit immer gefährlicher wird, versuchen die Flüchtlinge immer noch, das Meer zu überqueren. Die Angst ist groß, bis zum nächsten Frühjahr auszuharren. Dort wo sie auf die Überfahrt warten, sind sie nicht mehr sicher.
Migrant Crisis: More than 1,000 refugees rescued from boats off Libya on Wednesday M> https://t.co/gVonBBksbj pic.twitter.com/tnU8fN2tTt
— Pulse Ghana (@PulseGhana) 29. Oktober 2015
Migrant incl refugee arrivals in the Mediterranean exceed 700,000 Latest: https://t.co/kxU7t7LpTe #MissingMigrants pic.twitter.com/XMzmuKAzA2 — IOM (@IOM_news) 27. Oktober 2015
Vor Libyens Küste starben seit Anfang dieses Jahres 2860 Flüchtlinge auf dem Weg nach Italien. Die Dunkelziffer liegt weit höher. Dieses ist die Zahl der Toten, die an den Stand geschwemmt wurden.
Dealing with the migrant dead. @WestcottTom report from Libya, via @irinnews #RefugeeCrisis https://t.co/45hZI8NAa4 pic.twitter.com/r4CGN4VtRw
— Magnus Kellerdal (@MKellerdal) 30. Oktober 2015
Ihre Reise endet hier, auf einem Friedhof der unbekannten Flüchtlingen in Libyen. Tag für Tag sterben Menschen vor den Küsten, ob vor Griechenland oder vor Libyen. Vor zwei Wochen retteten türkische Fischer das Leben eines Flüchtlingskindes. Sie entdeckten dieses Kind im Meer. Bislang erreichten dieses Jahr über 500 000 Flüchtlinge Griechenland und jeden Tag kommen weitere Tausende Menschen in Griechenland an.
Looking towards the future. Children peer from a train in FYR Macedonia #refugeecrisis #migrantcrisis pic.twitter.com/l6aowfgdOC — UNICEF (@UNICEF) 31. Oktober 2015
Mittelmeer – das Massengrab zwischen Krieg und Verzweiflung
Bereits im April 2015 schrieben wir Netzfrauen – Massenmord im Mittelmeer
Das Meer riecht nach TOD – es ist unerträglich und alle schauen zu! Wie lange noch? Massenmord im Mittelmeer! Einer EU, die dem Sterben zuschaut, sollte der Friedensnobelpreis entzogen werden!
Erneut starben bei einer Flüchtlingstragödie bis zu 900 Menschen. Die Woche davor waren afrikanische Flüchtlinge vor der Küste Libyens in Seenot geraten, weil ihr Schiff kenterte. Die italienische Küstenwache konnte nur 144 der wahrscheinlich mehr als 500 Menschen retten. Die BBC meldete noch einmal 77 Tote, die das rettende Ufer nicht erreichten. In nur wenigen Tagen waren mehr als 1000 Menschen im Mittelmeer ums Leben gekommen – dieses geschah im April 2015.
Die Tragödie der Flüchtlinge beginnt schon vor der Flucht
Mindestens 350 000 Bootsflüchtlinge haben 2014 eine solch gefährliche Fahrt riskiert. Die Dunkelziffer dürfte auch hier weitaus höher sein. Auf dem Weg in eine hoffnungsvolle Zukunft haben viele das Ufer nicht erreicht. Unter den Opfern sind viele Kinder. Ihre Eltern hoffen, dass diese nun in einem Land leben werden, wo sie sich sicher vor Krieg, Missbrauch und Gewalt entfalten können. Doch letztlich liegen diese Kinder auf dem Meeresgrund.
Die meisten kamen über Libyen. Viele kamen mit kaputten Fischerbooten, von Menschenhändlern als eine wichtige Geldeinnahmequelle erkannt. So oder so – einmal diese Menschen übers Meer ans rettende Ufer zu bringen oder als Sklaven verkaufen an Bordelle oder als Arbeiter auf Feldern. Auch von „menschlichem Ersatzteillagern“ ist die Rede. Diese Menschen haben es nie auf ein Boot geschafft, sondern wurden schon vorher „als Ware“ in Gewahrsam genommen. – Dieses ist das Risiko, welches Menschen auf sich nehmen, um nach Europa zu gelangen.
Die, die nicht über Libyen kommen, beginnt ihre nautische Odyssee in Ägypten oder Tunesien. Mit Italien teilt auch Spanien den europäischen Rekord für die wachsende Zahl der Neuankömmlinge, und dies seit 2000. Für Italien eskalierte die Krise im Oktober 2011 mit dem Sturz von Libyens Staatschef Muammar Gaddafi. Vorher, im Jahr 2008, hatte Ministerpräsident Silvio Berlusconi einen Deal mit Gaddafi vereinbart: Italien würde unter anderem 5 Milliarden Dollar an Libyen zahlen und zwar für die Schäden, die Italien während der Kolonialzeit Libyen zugefügt hatte. Im Gegenzug wurden seitens Libyens die Migranten am Verlassen seiner Küsten gehindert. Italien suspendierte diese Vereinbarung Anfang 2011, aber die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern existierte weiter.
In der Zwischenzeit hat sich, durch die Konflikte in Afrika und dem Nahen Osten, ein Menschenhandelsring gebildet, der sich auf Grund des syrischen Bürgerkrieges vergrößert.
Eine große Anzahl der Migranten hoffen, dass sie über Italien nach Frankreich, Deutschland, dem Vereinigten Königreich oder anderen Ländern Nordeuropas kommen könnten.
In Italien angekommen, befinden sie sich dort, wo seit 2011 Kontrollen wieder eingeführt wurden, und wo sie in Gewahrsam genommen werden. Auch Frankreich hat Patrouillen eingeführt, die Migranten werden inhaftiert und wieder nach Italien zurückgeschickt.
Lesbos ist das neue Lampedusa
Ab dem Spätsommer 2011 wurde die kleine windgepeitschte Insel Lampedusa (Bevölkerung 6500), nur 80 Meilen östlich von der tunesischen Küste, Anlaufpunkt für die Einwanderung aus Afrika nach Italien. Lampedusa war eine Möglichkeit, die Grenzpatrouillen zu umgehen. Hier wurde ein Gefangenenlager errichtet, um etwa 850 Menschen unterzubringen. Mit dem zivilen Konflikt in Tunesien stieg die Zahl derer, die auf Lampedusa Zuflucht suchten. Schnell stieg die Zahl auf 1300 Migranten an, meist Tunesier. Die Bedingungen auf Lampedusa waren für die Migranten schrecklich, hatten sie doch nun den schweren Weg über das Meer gewählt, und kamen nun sozusagen von dem Regen in die Traufe. Ein Zurück gab es nicht, denn haben Sie schon einmal von Schleuserbanden gehört, die Migranten wieder zurückbringen? Es galt auszuharren.
Am 20 September 2011 kam es dann aufgrund der Enttäuschung der Migranten über das Verhalten der italienischen Regierung zu einem Aufstand. Bernardino De Rubeis, Lampedusa Bürgermeister, verglich die Situation mit einem Krieg.
Lampedusa war ein Begriff für Flüchtlinge geworden, und die Tourismusbranche, wichtiger Wirtschaftsfaktor für die Insel, war zusammengebrochen. Doch auf Hilfe seitens Europa wartete die Inselgemeinschaft vergebens.
Dann, im Oktober 2013, sank ein Boot aus Libyen mit mehr als 500 Personen, direkt vor der Küste der Insel.368 Menschen kamen dabei ums Leben. Eine Videoaufnahme von einem Rettungstaucher zeigte die Opfer, die auf dem Deck des Schiffes unter Wasser verstreut lagen. Ein besonders herzzerreißendes Bild zeigt ein Paar in einer ewigen Umarmung auf dem Grund des Meeres.
Die Welt schrie auf – nie wieder Bilder – wie in Lampedusa. Und was sehen wir heute? Anstatt, dass Europa gelernt hat, wird nun mit Tränengas, Schlagstöcken und Militär auf die Menschen, deren Not und Angst in deren Gesichter geschrieben steht, herumgeprügelt. Man hätte nie mit einem solchen Flüchtlingssturm gerechnet- es käme alles so plötzlich und man sei überfordert.
Dieses Video ist nur für harte Nerven gedacht, ansehen sollten es sich die, die noch vor einigen Jahren den Friedensnobelpreis stolz empfangen haben, denn schon damals gab es dieses Drama- und es kam nicht von heute auf morgen.
In der jetzigen Situation der Massenvertreibung stützt sich die internationale Gemeinschaft auf Einzelstaaten, die die primären Aufgaben allein meistern müssen. Kein Staat ist verpflichtet jedem anderen Staat zu helfen, der Flüchtlinge aufnimmt, oder unter der Last der Flüchtlingsströme leidet. Sieht so eine Gemeinschaft aus? Musste nicht auch gerade in der europäischen Union bei den Bankenrettungen überstaatlich geholfen werden, ohne Ausnahme? Sogar die Staaten mussten mit eingreifen, die selbst hoch verschuldet waren.
Nur wenige, wenn überhaupt, sind gesetzlich dazu verpflichtet, Flüchtlinge aufzunehmen. Grundsätzlich gibt es keinerlei gesetzliche Verpflichtung. Auch auf den entstehenden Kosten bleiben die Einzelstaaten sitzen. Sofern diese dann doch unterstützt werden, reicht es nicht aus. Außerdem handelt es sich um einen unsicheren Faktor, da ungewiss ist, wie lange die aufgenommenen Flüchtlinge bleiben werden.
Per Definition ist das Flüchtlingsproblem ein internationales: Jeder Staat, der Flüchtlinge im Auftrag der internationalen Gemeinschaft aufnimmt – um so die grundlegenden Menschenrechte verteidigt – darf nicht alleine dafür in die Verantwortung genommen werden. Im Gegenzug sollten Asylstaaten die Unterstützung von anderen erwarten können, sei es durch finanzielle, politische oder materielle Hilfe oder im Idealfall durch mehr aktive Bemühungen, um die Probleme zu mildern, die sich durch die Aufnahme von Flüchtlingen ergeben. Dieses kann von einer Gemeinschaft erwartet werden. Nur hoffen, dass private Initiativen zur Hilfe eilen – damit ist es nicht getan.
Das Problem dabei ist, dass die Länder, die die Flüchtlinge aufnehmen, auf freiwillige Beiträge der anderen Mitglieder der nationalen Gemeinschaft hoffen müssen. Als ein Nebenorgan der Generalversammlung hat die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR) keine Befugnis, hierzu Gelder von den UN-Mitgliedstaaten zu fordern.
Allein 2013 klaffte bei den tatsächlichen Beiträgen an die UNHCR des ermittelten finanziellen Bedarf eine kritische Lücke. Sie belief sich nur auf etwa 45 % der eigentlichen Beiträge die zugesagt waren. Wenn die internationale Gemeinschaft also die Herausforderungen der Flüchtlingskrise angehen will, müssen die Mitgliedsstaaten mehr in die staatliche Verantwortung genommen werden. Dieses gilt auch bei der Aufnahme von Flüchtlingen und der Unterstützung derer, die schon eine enorme Belastung durch die Flüchtlingslager tragen.
Wie schon geschrieben, sollte auch die Vereinte Gemeinschaft aus Lampedusa gelernt haben. Doch nur zwei Jahre später sehen wir Bilder, die wir nicht mehr aus dem Kopf bekommen: Anstatt humanitäre Hilfe zu leisten, wird auf diesen Menschen durch Polizei, private Schutzstaffeln wie Frontex oder Militär herumgeprügelt.
…und das Mittelmeer ist das Massengrab zwischen Krieg und Verzweiflung.
Netzfrau Doro Schreier
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