Es sind Menschen, die da kommen
In Ihrem Beschlusspapier vom 23.9.2015 über die Bewältigung der Flüchtlingskrise: Operative, haushaltspolitische und rechtliche Sofortmaßnahmen im Rahmen der Europäischen Migrationsagenda geben Sie unter anderem an, dass die Türkei zur Unterstützung der in ihrem Hoheitsgebiet gelandeten Flüchtlinge bereits 176 Mio € erhalten hat und dass es eine Zusage für 2015 bis 2016 in Höhe von 1 Milliarde € gibt.
Aber noch immer gibt es in den Lagern Hunger, Kälte und keine Schulbildung für Kinder. Viele der Geflohenen werden in den Lagern gar nicht aufgenommen und erhalten keinerlei Unterstützung durch den türkischen Staat.
Es wird nicht reichen, Geld zu verteilen, ohne dafür Sorge zu tragen, dass dieses auch zweckmäßig verwendet wird, um bei der Bewältigung dieser Riesenaufgabe zu helfen.
In der Aufzählung von Zuwendungen finden sich auch Serbien und Mazedonien mit 78 Mio; weitere 1,7 Mio € seit Juli 2015 und ein Hilfspaket in Höhe von 17 Millionen ist auf dem Weg.
Die Zustände an den EU-Außengrenzen waren schon bisher katastrophal, seit der Beschränkung der Zulassung auf nur mehr Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan sind sie jedoch ins Chaos abgeglitten.
Immer wird von Hotspots geredet. Ja, es gibt sie, die Brennpunkte auf der Balkanroute. Idomeni/Gevgelija, wo die nicht in Mazedonien Eingelassenen im Niemandsland sitzen, weil sie auch Griechenland nicht zurücknimmt. Am Wochenende gab es direkt an den Eingangsbarrieren Selbstmordversuche durch Erhängen, eine Gruppe Iraker ist seit Sonntag im Hungerstreik, einige dieser Verzweifelten haben sich den Mund zugenäht.
Es hat nur mehr wenige Grad über Null, die Menschen warten seit Tagen im Freien. Worauf eigentlich?
Dass jemand von Ihnen – aus Brüssel oder Straßburg – kommt und die lokalen Behörden fragt, wofür sie die Gelder verwendet haben? Sie werden feststellen können, dass es zum Teil weder Lager, noch Unterstände, Zelte, Toiletten, eine Küche oder Krankenstation gibt, wobei besonders die letzten beiden dringend vonnöten wären.
Ohne Freiwilligen-Einsatz gäbe es schon längst eine riesige humanitäre Katastrophe.
Preševo, das Lager nahe dem serbisch-mazedonischen Niemandsland ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie der Staat überall versagt. Hier, aber auch in Dimitrovgrad, Šid/Adaševci sowie in Beograd sorgen lokale, aber auch internationale Freiwillige dafür, dass Ankommende einiges von dem bekommen, was sie benötigen: Schuhe, Schals, Handschuhe, Mützen, Jacken – so davon gerade genügend vorrätig sind und von privaten Freiwilligen gespendet und vorbeigebracht wurden.
Vom EU-Beitrittskandidaten Kroatien lese ich in Ihrem Papier nichts – im offiziellen Lager Slavonski Brod sind aber Freiwillige plus Sachspenden auch nötig und willkommen, ebenso in Dobova, wo die einzig verfügbare medizinische Versorgung durch ein ungarisches Freiwilligenteam erfolgt.
In den Lagern Sentilj and Dobova in Slowenien werden auch stets Freiwillige und Sachspenden gesucht.
Im größten ‚Lagerbereich’, dem Niemandsland zwischen Kroatien und Spielfeld/Österreich ist Hilfe durch Freiwillige jedoch nicht gerne gesehen, die müssen sich Helfergruppen mit großer Freundlichkeit bei den Aufsichtsorganen erbetteln, was indiskutabel ist.
Über die Balkanroute – wie oben beschrieben, bzw. die im Frühjahr auch noch über Ungarn führte – sind heuer bisher mehr als 600.000 Flüchtlinge nach West-Europa gekommen.
Alle Staaten – inklusive Österreich – verlassen sich seit Monaten auf den Einsatz eines riesigen Freiwilligenheers. Dieses wendet verstärkt seit Juni seine Freizeit, auch Urlaubstage und –wochen auf zur Versorgung der Ankommenden bzw. Durchreisenden. Der finanzielle Einsatz in Form von Lebensmitteln, Hygiene-Artikeln, Plastikgeschirr und -besteck, Zelten, Isomatten, Schlafsäcken, Decken, Babyausrüstungen samt Windeln und Säuglingsnahrung, täglich gefahrenen Kilometern, um gekochtes Essen anzuliefern, Spenden einzusammeln und zu verteilen, Unterkünfte zu suchen, Notunterkünfte zu versorgen, indem Lebensmittel gekauft und geliefert, Wäsche abgeholt, zu Hause gewaschen und wieder angeliefert wird, geht wohl in einen zweistelligen Millionen-Euro-Betrag.
Das heißt, die Bevölkerung Europas wird ihrer humanitären Aufgabe gerecht und zeigt auch, dass sie sich mehrheitlich nicht vor Angst zu Hause verkriecht.
Sie zeigt die Solidarität, die den Mitgliedsländern wohl abgeht, die es nicht einmal fertig bringen, die Verteilung von 160.000 Personen endlich über die Bühne zu bringen.
Zeigen auch Sie endlich keine Angst mehr – begeben Sie sich an die Schauplätze dieser menschlichen Tragödien, sehen Sie nach dem Rechten (unangekündigt und vielleicht länger als nur eine halbe Stunde!) und vor allem verlieren Sie EINES nicht aus den Augen:
Es sind Menschen, die da kommen.
Es gäbe noch vieles anzumerken, das lasse ich jetzt sein und schließe dieses Schreiben mit der aufrichtigen Bitte, dass Sie sich an den nachstehenden Absatz Ihres Papiers halten und den möglichst umgehend umsetzen:
In einem geregelteren und fairen System der Migrationssteuerung muss die vorverlagerte Erfassung von Migranten bereits erfolgen, bevor diese die gefährliche Reise nach Europa antreten – ob es sich nun um Flüchtlinge handelt, die wahrscheinlich Anspruch auf internationalen Schutz haben, um Migranten, die Programme für legale Migration nutzen wollen, oder letztlich um Personen, die das Risiko eingehen, den weiten Weg in die EU auf sich zu nehmen und dann wieder in ihr Herkunftsland zurückgeführt zu werden.
Netzfrau Lisa Natterer
Quellen:
Die Presse:Mazedonien: Flüchtlinge nähen sich aus Protest Mund zu
Süddeutsche: „Ohne Freiwillige würden hier vermutlich Menschen erfrieren“
Informationen:
Europas eiserner Vorhang – Rasiermesserscharfer Stacheldraht gefördert von der EU
Nordafrika versinkt im Krieg – Leichen säumen Libyens Küste
Calais – Im Niemandsland gefangen – Mit Tränengas und Schlagstöcken gegen Flüchtlinge
Festung Europa – Sackgasse Balkan – Geschlossene Grenzen und Tränengas -Tragödien in Griechenland
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