Anfang 2014 änderte sich alles. Der IS übernahm die Kontrolle in Raqqa, machte die Stadt zu seiner Kommandozentrale und setzte seine Autorität brutal durch. Wer Widerstand leistete oder wessen Familie und Freunde die falschen Verbindungen hatten, wurde verhaftet, gefoltert oder ermordet.
Unsere Bitte: Verteilen Sie diesen Beitrag auch an den Schulen. Auch aus Deutschland und Österreich sind junge Menschen nach Syrien gegangen und haben sich dem IS angeschlossen, darunter auch junge Frauen. Wenn der Artikel nur einen verwirrten jungen Menschen, der sich bei uns von diesem Wahnsinn angezogen fühlt, zum Nachdenken bringt, haben wir schon viel erreicht.
Raqqa, eine Stadt im Norden Syriens gilt als Zentrale des IS. Heute sollen in der Stadt noch 400.000 Menschen leben. Die Schulen, wie auch alles andere in Raqqa, wurden vom IS übernommen. Am 26. September 2013 hatten islamistische Terroristen die christliche orthodoxe Kirche Sajjida-al-Bishara in Brand gesetzt, nachdem zuvor bereits die Kreuze und Bilder von den Wänden gerissen und angezündet wurden.
Was wissen wir wirklich über Syrien? Alles begann mit der Gewaltanwendung gegen friedliche Demonstranten, die gegen die Verhaftung von Kindern in der südsyrischen Stadt Darʿā im März 2011 protestierten. Es gab viele Tote und noch mehr Tote gab es dann ab April 2011, als das Regime die reguläre Armee gegen die Demonstranten einsetzte. Schon seit 2005 ist Syrien von der Welt isoliert. Präsident Baschar al-Assads Vater hat Syrien fast 30 Jahre lang regiert und zwar autoritär. 1991 stand er im Golfkrieg an der Seite der Amerikaner, die gegen Saddam Hussein kämpften, seinen Erzrivalen. Bereits 2005 fragte man sich, was passiert, wenn Assad gestürzt werden würde, was nach ihm käme.
Die Herrscher von 2005 warnten vor Chaos und islamistischen Extremisten. Schon damals gaben sie die Begründung, dass es in Syrien genauso wenig wie im Irak Parteien und zivile Institutionen für einen geordneten Übergang gäbe, dafür ein Zwangsregime einer Minderheit, die das Land zusammenzwingt. Zehn Jahre später, ist genau das eingetroffen. Der IS gewinnt immer mehr an Macht und hat bereits große Städte Syriens in seinen Händen. Mit dem Terror kommen noch mehr Leid und noch mehr Tote. So auch in Raqqa, im Norden Syriens. Wer nicht die Befehle befolgt, die der IS auferlegt, wird bestraft. Und oft reicht es aus, dass man als Frau nur etwas Makeup trägt, dazu sollte man wissen, dass die syrischen Frauen durchaus modern waren.
Schaut man sich Assads Frau Asma an, dann hat man vielleicht eine Vorstellung, wie viele Frauen aussahen. Das soll nicht heißen, dass wir Assads Methoden gut finden, sondern uns fragen, hat hier der Westen nicht schon vorher etwas versäumt? Musste es wirklich soweit kommen, dass es eskaliert? Wir sind nun wieder mitten in einem Krieg, viele junge Soldaten müssen sich von ihren Liebsten verabschieden und wissen nicht, ob sie irgendwann wieder heimkehren. Es ist ein Krieg, der noch Jahre andauern wird.
In Raqqa trauen sich die Menschen nicht mehr aus dem Haus seit der Übernahme durch den IS. Es leben auch viele Flüchtlinge dort, die aus anderen Städten vor dem Krieg geflohen sind. Aus Raqqa zu flüchten, ist nun fast unmöglich. Nach den Anschlägen von Paris fliegen Frankreich und Russland Angriffe auf Ziele in und um Raqqa. Auch Assad bombardiert die Stadt, während die Straßen vom IS kontrolliert werden. Erst gestern sollen bei einem Luftangriff viele Kinder getötet worden sein. Nach Syrien kommt Gott nur noch zum Weinen.
Hier folgt ein extrem eindrucksvoller und bedrückender Artikel aus der New York Times – über drei Frauen, die aus dem IS-„Kalifat“ geflüchtet sind. Viele baten Armin Wolf, der diesen Artikel gepostet hatte, dass es ihn auch in Deutsch gebe. Gerade für viele Jugendliche, für die dieser Artikel wichtig wäre, ist er sprachlich in Englisch vielleicht noch zu kompliziert.
Jetzt gibt es eine Übersetzung.
Sie stammt großteils von einem jungen Mann, der auf meiner FB-Seite regelmäßig mitdiskutiert, aber er möchte nicht genannt werden – „da sehen wir, mit welchen Leuten sie sich in den Social Media herumschlagen müssen, und wenn sich dann nur ein Prozent dieser Leute zu uns verirrt, würden wir das wahrscheinlich nicht so spannend finden“. Das ist schade, denn der junge Mann hat sich viele Stunden Arbeit gemacht. An dieser Stelle jedenfalls: Danke!
Hier nun die – sehr lange – Übersetzung. Wir würden uns freuen, wenn sich der Beitrag möglichst weit verbreitet, auch in Schulen, damit die, die meinen, zum IS gehören zu müssen, gewarnt werden.
IS-FRAUEN UND SITTENWÄCHTERINNEN IN SYRIEN ERZÄHLEN VON KOLLABORATION, ANGST UND FLUCHT
Von Azadeh Moaveni | New York Times vom 21. 11. 2015
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Südtürkei – Dua war erst seit zwei Monaten bei der Khansaa Brigade, der rein weiblichen Sittenpolizei des IS, als ihre Freundinnen zum Stützpunkt gebracht wurden, um ausgepeitscht zu werden. Die Polizei zerrte zwei Frauen herein, die sie seit ihrer Kindheit kannte, eine Mutter und ihre Tochter im Teenageralter, beide verzweifelt. Ihre Abayas, fließende schwarze Roben, waren als zu eng beurteilt worden. Als die Mutter Dua sah, flehte sie sie an, einzuschreiten. Die Stimmung im Raum war bedrückend, während Dua überlegte, was sie tun sollte.
„Ihre Abayas waren wirklich sehr eng. Ich sagte ihr, es sei ihre eigene Schuld; sie waren mit der falschen Bekleidung in die Öffentlichkeit gegangen“, sagt sie später: „Sie waren nicht erfreut darüber.“ Dua setzte sich wieder und sah zu, wie die anderen Offiziere die Frauen in ein Hinterzimmer führten, um sie auszupeitschen. Als sie ihre Niqabs (Schleier) lüfteten, sah man auch, dass ihre Freundinnen Makeup trugen. Es gab zwanzig Peitschenhiebe für die enge Kleidung, fünf für das Makeup und weitere fünf, weil sie bei ihrer Festnahme nicht unterwürfig genug waren. Ihre Schreie hallten, während Dua mit einem Kloß im Hals zur Decke starrte.
In der kurzen Zeit, seit sie bei der Khansaa Brigade in ihrer Heimatstadt Raqqa in Nordsyrien war, waren die Methoden der Sittenpolizei immer brutaler geworden. Die Verpflichtung, eine Abaya und einen Niqab zu tragen, war in den Wochen nach der Übernahme Raqqas durch die IS-Djihadisten noch für viele Frauen neu.
Anfangs war die Brigade noch angehalten, der Bevölkerung Zeit zu geben, um sich an die neuen Regeln anzupassen, und für Verstöße gegen die Bekleidungsvorschriften gab es nur kleine Strafen. Nachdem jedoch zu viele junge Frauen diese kleineren Beträge in Kauf nahmen, ohne etwas an ihrem Verhalten zu ändern, verschärfte die Brigade die Sanktionen. Nun wurde ausgepeitscht – und jetzt waren es ihre Freundinnen, die gezüchtigt wurden.
Mutter und Tochter kamen später in Duas Elternhaus, wütend über sie und voll Ärger über den IS: „Sie sagten, sie hassen den IS und wünschten, er wäre nie in nach Raqqa gekommen“, sagt Dua. Sie verteidigte sich damit, dass sie als junges und neues Mitglied der Khansaa-Brigade nichts habe tun können. Aber eine lebenslange Freundschaft voller gemeinsamer Feiertage und Geburtstagspartys war plötzlich zerstört. Ab diesem Tag hassten sie mich auch“, sagte sie: „Sie sind nie wieder zu uns nach Hause gekommen“.
Duas Cousine Aws arbeitete ebenfalls für die Brigade. Nicht lange, nachdem Duas Freundinnen ausgepeitscht wurden, sah Aws am Muhammad-Platz, wie Kämpfer einen Mann brutal schlugen. Der etwa 70jährige, gebrechliche, weißhaarige Mann war belauscht worden, als er über Gott geflucht hatte. Die Kämpfer schleiften ihn vor versammelter Menge auf den Platz und begannen ihn auszupeitschen, nachdem er auf die Knie gefallen war. „Er schrie die ganze Zeit“, sagt Aws: „Und er hatte noch Glück, dass er Allah beschimpft hatte, weil Allah gnädig ist. Hätte er auf den Propheten geschimpft, hätten sie ihn umgebracht.“
Aws, 25, und Dua, 20, leben heute in einer kleinen Stadt im Süden der Türkei. nachdem sie aus Raqqa und vor den djihadistischen Machthabern flohen. Sie haben hier Asma, 22, eine weitere Deserteurin der Khansaa-Brigade, getroffen und Unterschlupf in der großen Gemeinschaft syrischer Flüchtlinge gefunden.
Raqqa ist weithin bekannt als Hauptstadt des vom IS ausgerufenen Kalifats und als Ziel zahlreicher Luftangriffe von immer mehr Ländern, die die jüngsten Terroranschläge des IS vergelten wollen. Aber die Stadt, in der die drei Frauen aufwuchsen, war früher ziemlich anders. Unter falschen Namen erzählen sie während zweier Besuche in diesem Herbst mehrere Stunden lang von ihren Erfahrungen unter der IS-Herrschaft, und wie die Djihadisten das Leben in Raqqa völlig verändert haben.
Alle drei beschreiben sich als typische junge Frauen aus Raqqa.
Aws mochte Hollywood, Dua hatte Bollywood lieber. Aws Familie gehörte zur Mittelschicht, sie studierte englische Literatur an der Euphrates University, drei Stunden mit dem Bus von Raqqa entfernt. Sie verschlang Romane, manche von Agatha Christie und besonders Dan Browns „Diabolus“ ist ihr Lieblingsbuch.
Duas Vater ist Bauer und Geld war bei ihnen knapper, aber ihr Sozialleben war eng mit dem von Aws verflochten und die Cousinen liebten ihre bezaubernde Stadt. Man konnte zum Qualat Jabr spazieren, einem Fort aus dem 11. Jahrhundert am Assad-See, im Al-Rasheed-Park Kaffee trinken und von der Raqqa-Brücke in der Nacht die Lichter der Stadt betrachten. In den Gärten und im Vergnügungspark im Stadtzentrum traf man sich auf ein Eis oder eine Shisha-Pfeife mit Freunden.
„Im Sommer gingen alle abends aus und blieben lange draußen, weil es tagsüber so heiß war“, sagt Dua. Die Frauen haben immer noch Fotos ihrer „alten Leben“ auf ihren Handys gespeichert: Szenen von Partys und Ausflügen aufs Land. In Aws Fotogalerie sieht man Tage am Seeufer, ihre Freundinnen in Badeanzügen tanzen im Wasser.
Auch Asma mit ihrem aufgeweckten Blick war eine weltoffene junge Frau, die an der Euphrates University Wirtschaft studierte. Ihre Mutter stammt aus der Hauptstadt Damaskus und Asma verbrachte dort einige Jahre, traf Freunde, war auf Poolpartys schwimmen und ging in Cafés. Auch Asma liest gerne, liebt Hemingway und Victor Hugo und spricht ein wenig Englisch.
Alle drei zählten zu einer Generation syrischer Frauen, die unabhängiger war als alle vor ihr. Sie hatten freien Umgang mit jungen Männern, trafen sich mit ihnen oder lernten gemeinsam in einer religiös vielfältigen Stadt mit relativ lockeren Sitten. Viele junge Frauen kleideten sich auf eine Weise, die sie „Sport Style“ nannten, im Sommer mit unbedeckten Knien und Armen, und sie schminkten sich. Während die konservativeren Einwohnerinnen von Raqqa Abayas und Schleier trugen, besuchten immer mehr Frauen die Universität und heirateten später. Die meisten Frauen und Männer konnten sich ihre Ehepartner selbst wählen.
Als 2011 der Aufstand gegen Präsident Bashar al-Assad begann, wirkte das noch sehr weit weg von Raqqa. Die ersten Berichte von Kämpfen und Massakern kamen zumeist aus weit entfernten Städten im Westen des Landes wie Homs. Auch als die ersten Vertriebenen in Raqqa auftauchten und die jungen Männer der Stadt sich von Anti-Assad-Gruppen rekrutieren ließen – auch von der Nusra-Front und dem, was heute als IS bekannt ist – schien das öffentliche Leben noch intakt.
Anfang 2014 änderte sich alles. Der IS übernahm die Kontrolle in Raqqa, machte die Stadt zu seiner Kommandozentrale und setzte seine Autorität brutal durch. Wer Widerstand leistete oder wessen Familie und Freunde die falschen Verbindungen hatten, wurde verhaftet, gefoltert oder ermordet.
International wurde der Islamische Staat unter den Abkürzungen ISIS und ISIL bekannt. Aber in Raqqa begannen Einwohner, die Gruppe „Al Tanzeem“ zu nennen: Die Organisation. Es war schnell klar, dass jeder Platz in der sozialen Ordnung und jegliche Chance einer Familie zu überleben, völlig vom Wohlwollen dieser Gruppe abhing.
Die Einwohner von Raqqa waren aber nicht nur Untertanen der großteils irakischen Führung der „Organisation“ geworden – quasi über Nacht ging es noch weiter abwärts. Die ausländischen Kämpfer und anderen Freiwilligen, die dem Ruf des Djihad gefolgt und in die Stadt geströmt waren, wurden zu den Machthabern der erschütterten Gemeinde. Die Syrer waren in Raqqa schlagartig Bürger zweiter Klasse geworden – im besten Fall.
Dua, Aws und Asma waren unter den Glücklichen: Sie konnten sich entscheiden mitzumachen. Alle drei entschieden sich für einen Tauschhandel mit der „Organisation“: Ihr Leben gegen Arbeit und Heirat. Keine von ihnen identifizierte sich mit der extremen Ideologie und auch nach ihrer Flucht kämpfen sie in ihrem Versteck noch immer damit, zu erklären, wie sie von jungen, modernen Frauen zu Sittenwächterinnen des IS werden konnten.
Damals wirkte jede Entscheidung wie die richtige, wie eine Möglichkeit, das Leben erträglich zu machen: Kämpfer zu heiraten, um die Organisation zu beschwichtigen und ihre Familien nicht zu gefährden; der Khansaa-Brigade beizutreten, um ein klein wenig Bewegungsfreiheit und Einkommen zu erlangen – in einer Stadt, in der Frauen jeglicher Selbstbestimmung beraubt waren.
Aber jedes Zugeständnis wurde schnell zum Horror und die Frauen hassten, wie sie gegen ihre Nachbarn aufgehetzt und Teil einer Macht wurden, die eine Gemeinschaft zerriss, die sie geliebt hatten. Nach nur wenigen Monaten – verwitwet, verlassen und wieder dazu gezwungen, Fremde zu heiraten – mussten sie erkennen, dass sie als zeitweilige Sklavinnen für ausländische Kämpfer benützt wurden, deren einziger Lebensinhalt Gewalt war und ein Gott, der nicht wiederzuerkennen war.
Jede von ihnen kam zur Überzeugung, dass Flucht ihre einzige Überlebenschance war. Alle drei schlossen sich dem Strom der syrischen Flüchtlinge an, die ihr Land verließen. Hinter ihnen blieb eine Leere, die Ausländer füllten, die nichts mit Syrien verband.
DIE VERLOBUNGEN
Am Tag, an dem Abu Mohammed, ein türkischer IS-Kämpfer, durch Aws Türe schritt, um sie zu heiraten, machte sie ihr erstes Zugeständnis an die „Organisation“.
Ihr Vater und ihr Großvater empfingen Abu Mohammed im Wohnzimmer und sagten Aws, sie könne ihn bei einem zweiten Treffen sehen, falls er eine passende Aussteuer anbieten würde. Aber Aws war zu romantisch und hatte zu viele Leonardo-DiCaprio-Filme gesehen, um einen Mann zu heiraten, dessen Gesicht sie noch nie gesehen hatte.
Als sie vor der Wohnzimmertür niederkniete, um den vorbereiteten Kaffee abzustellen, erhaschte sie einen Blick auf ihn. Er hatte geschwungene Brauen, helle Augen und eine tiefe Stimme. Während sie auf das Ende der Unterhaltung wartete, malte sie sich aus, wie ihr gemeinsames Leben aussehen könnte. Als ihr Vater sie ins Wohnzimmer rief, wusste sie bereits, dass sie ja sagen würde – ihrer Familie zuliebe.
Nach ihrer Hochzeit war sie überrascht, dass sich ihre Ehe echt anfühlte, sogar liebevoll. Abu Mohammed zeichnete gerne die zwei Muttermale auf ihrer linken Backe nach und neckte sie wegen ihres Akzents, wenn sie versuchte, türkische Wörter auszusprechen.
Aber oft kam er in der Nacht nicht nachhause, manchmal blieb er sogar drei oder vier Nächte weg, um für den IS zu kämpfen. Aws hasste es, alleine zu sein und schmollte, wenn er wieder zurückkam. Er antwortete nur mit Witzen und schmeichelte ihr, bis sie ihm verzieh.
Sie versuchte, sich die Zeit durch Treffen mit den Frauen anderer Kämpfer zu vertreiben. In ihrer Gesellschaft hatte sie das Gefühl, dass es ihr gut ging. Andere Frauen waren mit gewalttätigen Männern verheiratet. Alle hatten von Fatima gehört, die sich die Pulsadern aufgeschnitten hatte, weil sie an einen Kämpfer verheiratet wurde. Und dann war da noch die tunesische Nachbarin, die jedes Mal in Tränen ausbrach, wenn jemand den Namen ihres Mannes erwähnte. Doch selbst diese Frauen hatten noch Glück im Vergleich zu den entführten jesidischen Frauen, die als Sklavinnen für die Kämpfer nach Raqqa verschleppt wurden.
Meistens jedoch waren Aws Tage von einer unerträglichen Leere. Gesellig und lebhaft, mit ihren langen, schwarzen Locken und einem knabenhaften Gesicht, war sie gelangweilt und zutiefst unglücklich. Die Hausarbeit war rasch erledigt, aber sie konnte nirgendwo hingehen. Neue Bücher waren fast unauffindbar, weil die Djihadisten fast alle Romane verboten und Buchläden und Kulturzentren „gesäubert“ hatten
Die „Organisation“ warf auch dunkle Schatten auf ihre Ehe. Obwohl Aws immer ein Baby wollte, verlangte Abu Mohammed von ihr, die Pille zu nehmen, die noch immer in den Apotheken von Raqqa erhältlich war. Als sie ihn bedrängte, erklärte er ihr, dass seine Kommandanten ihren Kämpfern angeordnet hatten, ihre Frauen nicht zu schwängern. Junge Väter würden sich nicht so leicht für Selbstmordmissionen melden.
Das war einer der frühen niederschmetternden Momente, in denen Aws erkannte, dass es keine Normalität oder Wahl geben würde; der IS war ein dritter Partner in ihrer Ehe, hier im Schlafzimmer: „Anfangs fing ich immer wieder damit an, aber es regte ihn wirklich auf, also habe ich damit aufgehört“, sagt sie.
Für Duas Familie war Geld immer ein Thema. Ihr Vater war noch immer Bauer, aber viele Anwälte und Ärzte, die bei der Machtübernahme der Djihadisten ihre Jobs verloren hatten, begannen nun auch Früchte und Gemüse zu verkaufen und wurden eine zusätzliche Konkurrenz. Die „Organisation“ erhob Steuern, was die finanzielle Situation zusätzlich verschlimmerte. Und als ein saudischer Kämpfer im Februar 2014 um Duas Hand anhielt, drängte sie ihr Vater einzuwilligen.
Der Saudi, Abu Soheil Jizrawi, stammte aus einer wohlhabenden Bauunternehmer-Familie in Riad und versprach, Duas Leben zu ändern. Sie dachte nach und entschloss sich letztlich, seinen Antrag anzunehmen. Zum ersten Mal sah sie ihn an ihrem Hochzeitstag, als er mit Gold für ihre Familie ankam. Ihr gefiel, was sie sah: Abu Soheil war hellhäutig mit einem weichen, schwarzen Bart, groß und schlaksig, mit Charisma und einer Art, die sie zum Lachen brachte.
Er brachte sie in einem großen Appartement mit neuen europäischen Küchengeräten und Klimaanlage in allen Räumen unter – ein Luxus, den in Raqqa fast niemand kannte. Sie zeigte ihr neues Heim im Freundes- und Verwandtenkreis gerne herum. Ihre Küche wurde zum Ort, an dem die Frau des anderen Kämpfers im Haus – eine Syrerin, die wie Aws einen türkischen Rekruten geheiratet hatte – zum Kaffee einkehrte. Jeden Morgen ging Abu Soheils Diener für sie einkaufen und stellte Taschen voller Fleisch und anderer Lebensmittel vor die Türe.
Abends saß das Paar bei Essen und er lobte ihre Kochkünste, besonders wenn sie sein Lieblingsessen Kabsa zubereitete, eine würzige Reisspeise mit Fleisch und Melanzani. Abu Soheil störte sich nicht mal an der kleinen tätowierten Rose auf ihrer Hand, obwohl permanente Tattoos in strengen Interpretationen des Islams verboten sind. „Er hat mein Leben komplett verändert“, sagte Dua: „Er hat mich davon überzeugt, ihn zu lieben.“
LEERE STUNDEN FÜLLEN
Während in das Leben von Aws und Dua ein wenig Licht gekommen war, blieb Asmas Wohnzimmer in Raqqa dunkel und stickig. Die Vorhänge waren zugezogen und die Fenster verschlossen, damit niemand sah, dass ihr Fernseher an war. TV, Musik, Radio – alles lief mit leisester Lautstärke.
Doch selbst diese Flucht vor der Realität wurde für Asma immer seltener, weil es in Raqqa nur mehr zwei, manchmal vier Stunden täglich Strom gab. Und zum Friseur konnte sie auch nicht mehr gehen, um sich die Zeit zu vertreiben.
Die „Organisation“ verfügte, dass das Internet nur mehr für wichtige Arbeiten zu verwenden sei, wie das Rekrutieren ausländischer Kämpfer und Frauen. Asma, die zuvor mehrere Stunden am Tag vor ihrem Laptop verbracht hatte, fand sich von der Außenwelt abgeschnitten. „Aber für sie war es ok, all diese Frauen zu kontaktieren, um sie nach Syrien zu holen“, erinnert sich Aws später, als die drei Frauen hier in der Türkei zusammensitzen. Alle drei rollen ihre Augen: „Das war ja Arbeit.“
Im Februar 2014, zwei Monate nach ihrer Hochzeit und ohne Chance, Abu Mohammed zu einem Kind zu überreden, entschied sich Aws, der Khansaa-Brigade beizutreten. Dua trat etwa zur gleichen Zeit bei und sie begannen gemeinsam die verpflichtende militärische und religiöse Ausbildung.
Die Cousinen hatten Bedenken beizutreten. Aber sie hatten bereits Kämpfer geheiratet und sich entschieden, die Besetzung von Raqqa zu überstehen, indem sie sich mit der „Organisation“ arrangierten. Der Brigade beizutreten, war eine Chance, mehr zu tun als einfach nur vor sich hin zu existieren und es hatte Ähnlichkeit mit der Arbeit ihrer Männer. Das volle Ausmaß der Unterdrückung durch die Brigade wurde erst mit der Zeit offensichtlich.
Von Asmas Verwandten arbeiteten bereits mehrere in verschiedenen Funktionen für den IS und sie überlegte gründlich, bevor sie im Januar 2014 beitrat. Da ihre Familie ohnehin schon im IS-Netz verwoben war, schien es eine logische Entscheidung zu sein. „Für mich ging es um Geld und Macht, hauptsächlich um Macht“, sagt Asma, während sie ins Englische wechselt, um ihre Motivation zu beschreiben: „Da meine Verwandten schon alle dabei waren, änderte es wenig, auch beizutreten. Ich hatte nur mehr Autorität.“
Aber auch wenn die Frauen versuchten, ihre Entscheidung rational zu begründen, konnte man nicht umhin, die „Organisation“ als das zu sehen, was sie war: eine gezielte Tötungsmaschinerie. Aber in ganz Syrien schien es nur mehr um den Tod zu gehen.
In der Nacht hörten sich Aws und Dua an, wie ihre Männer versuchten, sich zu rechtfertigen. Sie mussten grausam sein, wenn sie eine Stadt einnahmen, um spätere Opfer zu vermeiden, insistierten ihre Männer. Assads Truppen gingen auf Zivilisten los, stürmten Häuser mitten in der Nacht und misshandelten Männer vor ihren Frauen; die Kämpfer hatten keine Wahl, als mit gleicher Brutalität zu antworten, sagten sie.
Alle drei Frauen nahmen am vorgeschriebenen Training für die Khansaa-Brigade teil. Etwa fünfzig Frauen absolvierten den 15-tägigen Waffenkurs. In Achtstunden-Tagen lernten sie, Pistolen zu laden, zu reinigen und abzufeuern. Aber die ausländischen Frauen, die zum IS kamen, durften mit „Russis“ trainieren, wurde erzählt – so hießen im Slang die Kalaschnikow-Maschinengewehre.
Der Religionsunterricht, den hauptsächlich Marokkaner und Algerier hielten, beschäftigte sich vor allem mit den Gesetzen und Prinzipien des Islam. Dua gefiel das, sie hatte das Gefühl, dass sie nicht genug über den Islam gewusst hatte, bevor die „Organisation“ an die Macht gekommen war.
Ab März 2014 waren Aws und Dua täglich in kleinen grauen Kia-Vans mit der Aufschrift „Al Khansaa“ auf den Seiten auf Patrouille. Frauen aus der ganzen Welt waren bei der Brigade: Britinnen, Tunesierinnen, Saudis, Französinnen. Aber sowohl in den Einheiten als auch in Raqqa generell hatte die „Organisation“ verordnet, dass Einheimische und Ausländer sich voneinander fernzuhalten hätten. Die Besatzer hielten Gerüchte für gefährlich. Bezahlung und Unterbringung könnten verglichen werden und Ungerechtigkeiten ans Licht kommen.
Das Thema Status – wie man ihn erreicht und wie man ihn zeigt – wurde zu einer schwierigen Frage. Bescheiden aber zufrieden erzählt Dua, dass sie wegen ihres wohlhabenden saudischen Mannes, der angeblich weit oben in der „Organisation“ war, angesehener war. „Als Frauen hing unser Status von seinem ab“, sagt Aws über die Ehemänner allgemein. Unter den Kämpfern war das von Beginn an klar: Sold, Autos, Wohngegend und Unterbringung hingen vor allem von der Nationalität ab.
Es wurde schnell klar, dass die ausländischen Frauen mehr Bewegungsfreiheit, ein höheres Einkommen und kleine Vergünstigungen genossen. Sie mussten sich für Brot nicht anstellen und im Spital nichts bezahlen. Manche schienen unbeschränkt Zugang zum Internet zu haben, sogar mit mehreren Twitter-Profilen.
„Die ausländischen Frauen durften tun, was sie wollten“, beschwert sich Asma: „Sie konnten auch hingehen, wo sie wollten.“
„Sie waren verwöhnt“, sagt Aws: „Sogar die, die jünger waren als wir, hatten mehr Macht.“
„Vielleicht gab es das Gefühl, sie müssten anders behandelt werden, weil sie ihre Heimatländer verlassen mussten“, sagt Dua, die mit Kritik zurückhaltender ist.
„Wir durften nichts sagen“, sagt Aws: „Wir konnten nicht mal fragen: Warum?“
Die „Organisation“ bot keine Möglichkeit für Beschwerden. Sie funktionierte im Verborgenen. Auch mit Kämpfern verheiratet zu sein, brachte einem keine echten Informationen über Operationen oder Ziele. Prominente Persönlichkeiten wie der Kalif Abu Bakr al-Baghdadi selbst wurden nie in der Öffentlichkeit gesehen. Selbst in Raqqa blieb er nur ein Schatten, sagen die Frauen.
Zu Asmas Aufgabe in der Brigade gehörte es, ausländische Frauen an der türkischen Grenze, 50 Meilen nördlich von Raqqa, zu treffen, um sie nachts in die Stadt zu begleiten. Mit ihrem – wenn auch bruchstückhaften – Englisch und ihrer kosmopolitischen Ausstrahlung war sie dafür gut geeignet. Sie bekam einen Zettel mit Namen und das Team – zwei oder drei Frauen der Brigade, ein Übersetzer und ein Fahrer – machte sich auf den Weg.
Viele Frauen kamen aus Europa. In einer Frühlingsnacht in diesem Jahr übernahmen Asma und ihr Team drei britische Mädchen, westlich gekleidet aber mit verschleiertem Haar. „Sie waren so jung, zierlich und so glücklich, angekommen zu sein, sie lachten und strahlten“, erinnert sie sich. Sie brachte sie zu einer Herberge und half ihnen, sich einzurichten. Wie die meisten Ausländerinnen, die sie eskortiert hatte, traf sie die Mädchen nie wieder. Erst später sah sie ihre Gesichter überall im Internet: Schulmädchen aus Bethnal Green in London, freiwillig ausgewandert, um sich dem IS anzuschließen. Asma war verblüfft über die Entscheidung, sich so unbedarft und fröhlich in ein Leben zu stürzen, dass ihr jeden Tag die Kräfte raubte.
Früher hatte Asma einen festen Freund vom College. Die Beziehung war kompliziert. Noch bevor der IS in Raqqa die Kontrolle übernahm, hatte er sie schon dazu gedrängt, einen Kopfschleier zu tragen und sich konservativer zu kleiden. Aber sie lehnte ab, sich danach beurteilen zu lassen, wie viel ihrer Haut sie bedeckte. Nach dem Machtwechsel übersiedelte er nach Jordanien, um sein Studium zu beenden.
Jetzt trug sie den ganzen Tag ihren Hijab und zwang andere Frauen dazu, es auch zu tun. Aber in der Nacht hörte sie auf ihrem Handy die Rockgruppe Evanescence und weinte.
Eines Tages im Frühling 2014 gingen die Frauen aus Duas Polizeieinheit zu einem der Hauptplätze der Stadt, um sich die Steinigung von zwei Frauen – angeblich wegen Ehebruchs – anzuschauen. Dua weigerte sich mitzugehen. Ihr gefiel nicht, dass den Extremisten das Spektakel wichtiger war als die korrekte Umsetzung der Sharia: „Im Islam braucht man vier Augenzeugen für den Akt, um eine solche Bestrafung durchzuführen“, sagt sie.
Innerhalb von Stunden wurde bekannt, dass die Frau mit gar keinem Mann zusammen gewesen war. Es hieß, sie sei vor dem Polizeihauptquartier der Stadt mit einem Schild aufgetaucht, auf dem „Tasqoot al-Tanzeem“ stand: „Nieder mit der Organisation“.
Als in diesem Frühling die Bäume blühten, wurde es alltäglich, am Hauptplatz neben dem Uhrturm die Köpfe gefangener Soldaten und angeblicher Verräter hängen zu sehen. Aber die meisten, die in Raqqa geblieben waren, hatten entweder zu viel Angst, um zu rebellieren – oder gar nicht das Bedürfnis.
Voller Entsetzen versuchten die Cousinen, mit all dem fertig zu werden – und beruhigten sich mit dem Gedanken, dass sie sich zwar der „Organisation“ angeschlossen hatten, aber zumindest selbst niemanden umbrachten.
„Wir haben viele Enthauptungen gesehen“, erinnert sich Dua.
„Du hast die Köpfe gesehen – es waren nur die Köpfe, die du gesehen hast“ korrigiert sie Aws.
„Naja, es ist im Islam verboten, Körper zu verstümmeln.“
„Ich habe Körper gesehen, die eine ganze Woche lang auf der Straße lagen.“
Asma, die diese Wendung des Gesprächs merklich beunruhigt, klinkt sich aus und checkt auf ihrem Handy Facebook. Von den drei Frauen ist sie die einzige, die im Internet westliche Nachrichten verfolgt. Sie weiß, für wie bizarr die Welt den IS hält, und es quält sie, wie sehr sie ihr junges Erwachsenenleben bereits verdorben hat.
Innerhalb der Brigade begannen die Frauen, ihre Autorität zur Schlichtung kleiner Streitigkeiten und auch zur Rache auszunutzen. „Frauen, die stritten, gingen zur Organisation und beschuldigten ihre Feinde irgendwelcher Verstöße“, erinnert sich Aws: „Auch wenn sie gar nichts falsch gemacht hatten, wurden sie ins Hauptquartier gebracht.“
Ihre Aufgabe, ihren Nachbarinnen Angst einzujagen, war eine Qual. Dass darauf alle heuchlerisch reagierten, war eine verlässliche Annahme: „Oft haben mich Frauen, die ich kannte, angelächelt, als sie erfuhren, dass ich dem IS beigetreten war“, sagt Aws: „Aber ich wusste, dass sie innerlich ganz anders empfanden. Ich wusste das, weil ich mich – bevor ich selbst beitrat – auch über Frauen geärgert habe, wenn sie zum IS gingen.“
FRAUEN VON MÄRTYRERN
Wie Aws Ehemann wollte auch Abu Soheil, der Mann von Dua, keine Kinder. Aber Dua hatte es nicht eilig und drängte ihn nicht. Im Juli 2014 kam er drei Nächte lang nicht nachhause. Am vierten Tag klopfte eine Gruppe Kämpfer an ihre Tür. Sie sagten ihr, dass sich Abu Soheil während einer Schlacht mit der syrischen Armee nahe der Grenze zur Türkei selbst in die Luft gesprengt hatte.
Dua war am Boden zerstört, vor allem als ihr der Kommandant offenbarte, dass Abu Soheil von sich aus eine Selbstmordmission verlangt hatte. Er hat ihr nie von einem solchen Plan erzählt. Dua brach zusammen und wälzte sich schluchzend vor den Füßen der Kämpfer.
Sie versuchte, sich mit dem Gedanken zu trösten, dass es ehrenhaft war, die Frau eines Märtyrers zu sein. Aber ein paar Tage später erfuhr sie etwas, das alles noch schlimmer für sie machte: Abu Soheil hatte sich nicht in einer Operation gegen die verhasste syrische Armee umgebracht, sondern im Kampf gegen eine andere Rebellengruppe, die der IS vernichten wollte. „Ich habe tagelang geweint“, sagt sie: „Er ist im Kampf gegen andere Muslime gestorben.“
Nur zehn Tage später kam wieder ein Kämpfer aus der Truppe ihres Mannes. Er erklärte ihr, sie könne nicht unverheiratet bleiben und müsse wieder heiraten. Sofort.
Wieder verdrehte die „Organisation“ ein islamisches Gesetz zum eigenen Nutzen. In praktisch allen Auslegungen des Koran muss eine Frau drei Monate warten, bevor sie wieder heiratet. Das dient vor allem dazu, die Vaterschaft eines allfälligen Kindes sicherzustellen. Diese Wartezeit, „idaa“ genannt, ist nicht nur vorgeschrieben, sondern auch ein Recht der Frau, damit sie trauern kann. Aber selbst im Bereich der göttlichen Gesetze definierte der IS alles um.
„Ich sagte ihm, dass ich noch nicht mal aufhören konnte, zu weinen“, sagt Dua. „Ich sagte: Mein Herz ist gebrochen, ich will die vollen drei Monate warten.“ Aber der Kommandant erklärte ihr, sie sei anders als eine normale Witwe. „Du solltest nicht trauern“, sagte er: „Er wollte zum Märtyrer werden und du bist die Frau eines Märtyrers. Du solltest glücklich sein.“
Das war der Moment, in dem sie zerbrach.
Die „Organisation“ hatte sie zur Witwe gemacht und wollte das wieder und wieder mit ihr machen: Sie in einen immer neuen Zeitvertreib für Selbstmord-Attentäter verwandeln. Es gab keine Wahl mehr, keine Würde, nur mehr den Dienst, den der IS verlangte, um weiter Männer an seine Kriegsfronten schicken zu können.
„Ich hatte eine gute Ehe mit einem guten Mann und ich wollte nicht in einer schlechten Ehe enden“, sagt Dua. „Ich wusste, es wäre schmerzvoll für mich, jemanden zu heiraten, nur um ihn später wieder in einer Märtyrer-Mission zu verlieren. Es ist nur natürlich, Gefühle zu haben und zusammenzuwachsen.“ Sie wusste, dass sie flüchten musste, auch wenn es bedeuten würde, damit das Haus, das ihre Erbschaft sein sollte, zu verlassen.
Die Nachricht kam für Aws nicht viel später als für Dua. Auch Abu Mohammed hatte sich in einer Selbstmord-Mission getötet. Es gab kein Begräbnis und keine Schwiegereltern, mit denen sie trauern konnte. Sie war am Boden zerstört. Aber sie hatte keine Gelegenheit, sich zu erholen, bevor die „Organisation“ wieder vor ihrer Tür stand. „Sie sagten mir, dass er jetzt ein Märtyrer ist und ganz offensichtlich keine Frau mehr braucht. Aber es gäbe einen anderen Kämpfer, der eine braucht“, sagt Aws. „Sie haben gesagt, dieser Kämpfer wäre ein Freund meines Mannes und dass er sich an seiner Stelle um mich kümmern und mich beschützen würde.“
Widerwillig stimmte sie zu, obwohl ihre dreimonatige Wartefrist noch einen Monat gedauert hätte. Aber es passte nicht mit diesem neuen Mann, einem Ägypter, der noch weniger zuhause war als Abu Mohammed. Alles an ihm – seine Persönlichkeit, sein Aussehen, ihre sexuelle Beziehung… sie zuckt mit den Schultern und sagt bitter nur ein Wort: „Aadi“. Gewöhnlich.
Als er zwei Monate später mit seinem Sold davon rannte, ohne sich zu verabschieden, blieb Aws auf sich alleine gestellt zurück – und hatte nicht einmal mehr den Status einer Witwe. Zurück im Haus ihrer Eltern lief sie von Zimmer zu Zimmer und trauerte dem Leben nach, das sie einst hatte – fassungslos, wie weit entfernt das alles war.
ABSCHIED
Für die Außenwelt mag das vom IS kontrollierte Gebiet wie ein hermetisch abgeriegeltes Land wirken, in dem die härtesten Gesetze des 7. Jahrhunderts gelten. Aber bis vor kurzem waren die Wege nach Raqqa noch relativ frei passierbar. Händler kamen und gingen und belieferten die „Organisation“ mit allem, was gebraucht und gewünscht wurde – inklusive Zigaretten, die manche Kämpfer rauchten, obwohl sie für die Einwohner von Raqqa verboten waren.
Dua, die sich eine weitere Zwangsehe nicht vorstellen konnte, flüchtete als Erste. Ihr Bruder rief syrische Freunde im Süden der Türkei an, die sie auf der anderen Seite der Grenze treffen sollten, und Anfang dieses Jahres machten sich die Geschwister in einem Minibus auf die zweistündige Reise zum Tal Abyad-Grenzübergang. Der Strom von Flüchtlingen in die Türkei war damals noch dicht und die beiden kamen durch, ohne aufgehalten zu werden.
Vier Monate später, als Aws beschloss zu flüchten, war es schon schwieriger, über die Grenze zu kommen, weil die Türkei die Kontrollen verschärft hatte. Sie kontaktierte Dua und wurde mit dem Mann zusammengebracht, der auch Dua bei der Flucht geholfen hatte. Der Mann gehört zu einem Netzwerk im Süden der Türkei, das gewerbsmäßig Menschen aus dem IS-Gebiet herausholt. Als Aws zum Grenzübergang kam, wartete bereits ein Kollege des Mannes mit einem gefälschten Ausweis, laut dem sie seine Schwester war, für den Fall einer Kontrolle. Ihr Herz schlug bis zum Hals, aber die Männer am Checkpoint verlangten weder ihren Ausweis noch, dass sie ihren Schleier hob.
Im Frühling dieses Jahres quälte Asma der Gedanke, ob auch sie flüchten sollte. Raqqa hatte sich verändert. Früher war ihr alle zwanzig Schritte jemand begegnet, den sie kannte. Die Stadt hatte sich klein angefühlt. Aber die, die es sich leisten konnten, waren geflüchtet. Bei ihrer Arbeit war sie von fremden Gesichtern und ausländischen Akzenten umgeben.
Die „Organisation“ missbilligte es, wenn junge Frauen unverheiratet waren und Asmas Situation wurde kompliziert. Sie fiel in eine schwere Depression – wie ausgetrocknet dehnten sich ihre Tage vor ihr aus. „Du konntest nicht ohne deinen Vater oder Bruder zum Arzt gehen. Du konntest nicht einfach spazieren gehen“, sagt sie: „Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten.“
Sie fühlte, wie sich ihre Identität aufzulösen begann. „Früher war ich so wie du“, erzählt sie gestikulierend der Reporterin: „Ich hatte einen festen Freund, ich ging zum Strand, ich trug einen Bikini. Auch in Syrien trugen wir kurze Röcke und Tops und das war alles normal. Sogar meine Brüder scherten sich nicht darum, ich hatte mit niemandem Probleme.“
Als sie mit einer Cousine ihre Flucht plante, erzählten sie niemandem davon, auch nicht ihren Familien, und nahmen nur ihre Handtaschen mit. Ein Freund innerhalb der „Organisation“ half ihnen bei der Flucht und die Angst um ihn machte die nächtliche Reise noch schrecklicher. Der Freund schleuste sie durch drei Checkpoints, letztlich standen sie kurz nach ein Uhr nachts am Grenzübergang.
Sie zeigten ihre Ausweise und murmelten Auf Wiedersehen. „Ich war überzeugt, dass der Kerl am Checkpoint wusste, dass wir fliehen wollten. Ich war so nervös und verängstigt“, erinnert sich Asma. „Aber dann wurde mir klar, dass es nur für mich verdächtig aussah, weil ich so verängstigt war.“
Das Auto, das auf der anderen Seite auf sie wartete, sah im Mondlicht grau aus. Sie stiegen ein und fuhren weg vom Islamischen Staat, von dem, was von Syrien noch übrig war.
KLEIN SYRIEN
Die türkische Stadt, in der die drei Frauen jetzt leben, liegt in einer trockenen Grasebene. An ihren Rändern wachsen Pinien, Oliven- und Zwetschgenbäume. Während eines Baubooms vor einigen Jahren wurden niedrige Wohnblöcke errichtet, die jetzt als billige Unterkünfte dienen, und es vielen syrischen Flüchtlingen ermöglichen, hier ein neues Leben aufzubauen.
Verwahrloste syrische Kinder betteln auf den Straßen und verkaufen Taschentücher, wie in Istanbul oder Beirut. Aber es gibt Arbeitsgelegenheiten und die Miete für eine Zweizimmerwohnung ist nicht völlig unerschwinglich. Mittlerweile gibt es so viele syrische Flüchtlinge, dass man im Stadtzentrum syrische Restaurants und Baklava-Läden findet. Die Händler am Bazar können bereits genug Arabisch um: „Diesen Preis gibt es nur für Sie“ zu sagen.
Aber nicht alle syrischen Flüchtlinge in der kleinen türkischen Stadt waren Kollaborateure des IS – und Aws, Dua und Asma hüten ihr Geheimnis streng. Sie sind staatenlos und entwurzelt und verbergen eine Vergangenheit, die ihnen große Probleme machen könnte. Alle drei lernen Englisch und Türkisch, in der Hoffnung auf eine Zukunft, vielleicht irgendwann in einem weltoffeneren Teil der Türkei. Sie wohnen bei syrischen Familien, die sie noch von zuhause kannten und die hier schon besser eingelebt sind. Diese Familien kommen für den Großteil ihrer Lebenskosten auf, und was sie auf ihrer Flucht mitnehmen konnten, reicht für ihre Sprachkurse und die täglichen Ausgaben.
In der Frühe, während Aws Kaffee macht, lauscht sie den Klängen der libanesischen Sängerin Fayrouz. Sie ist verschlossen, was ihr Sozialleben betrifft, aber sie zeigt auf ihrem Handy neue Bilder her, die an ihr altes Leben in Raqqa – bevor die „Organisation“ an die Macht kam – erinnern dürften: hübsche Freundinnen, endlose Shisha-Cafes. Ein paar Mal im Monat spricht sie über WhatsApp mit ihrer Familie. Sie würde gerne ihr Studium beenden und sich wieder normal fühlen: „Aber hier auf der Straße lassen sie dich nie vergessen, dass du dein Land verlassen musstest“, sagt sie. „Einmal sagte jemand zu einem Freund von mir: Wenn du ein richtiger Mann wärst, hättest du dein Land nicht verlassen. Es hat mich umgebracht, als ich das hörte.“
Asma ist ängstlicher und geht kaum aus dem Haus. Sie hat den Kontakt zu ihrer Familie abgebrochen aus Angst, dass die Extremisten ihre Verwandten für ihre Flucht bestrafen könnten. Einmal pro Woche beklagt sie sich in einer E-Mail und am Telefon bei einem Freund in Raqqa, dass ihre Familie sie verstoßen hat. Das stimmt nicht, aber sie hofft, dass sich dieses Gerücht bis hin zum Geheimdienst des IS verbreitet und ihre Eltern vor Konsequenzen schützt.
Nach Jahren der Scham und Enttäuschung sagt keine der drei Frauen, dass sie sich vorstellen könne, je zurückzugehen – auch nicht, wenn der Islamische Staat fallen sollte. Das Raqqa, das ihr Zuhause war, existiert nur mehr in ihren Erinnerungen. „Wer weiß, wann das Kämpfen ein Ende hat?“, sagt Asma. „Syrien wird wie Palästina werden. Jedes Jahr werden die Leute denken: ‚Nächstes Jahr wird es vorbei sein. Wir werden frei sein.‘ Jahrzehnte werden so vergehen. Syrien ist jetzt ein Dschungel.“
„Selbst wenn eines Tages alles in Ordnung ist, werde ich niemals nach Raqqa zurückkehren“, sagte Aws: „Zu viel Blut wurde auf allen Seiten vergossen – ich rede nicht nur von ISIS, sondern von allen.“
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Nachtrag:
Weil manche in den Kommentaren fragen, warum ich diesen Text hier gepostet habe – die drei Frauen hätten kein Mitleid verdient, sie hätten das ja alles bis zu ihrer Flucht freiwillig gemacht:
Darum ging es mir gar nicht. Aber ich denke, der Text zeigt sehr, sehr eindrucksvoll, wie der IS-Terror eine Gesellschaft zerstört. Aus Österreich sind 250 junge Menschen nach Syrien gegangen, darunter auch einige Mädchen. Wenn der Artikel nur einen verwirrten jungen Menschen, der sich bei uns von diesem Wahnsinn angezogen fühlt, zum Nachdenken bringt, was einen dort wirklich erwartet, war er jede Mühe wert, oder? Deshalb halte ich es für wichtig, dass der Text an Schulen kommt – und zwar nicht nur in Maturaklassen, in denen das Englisch schon ausreicht, um ihn im Original zu lesen. Ich finde ja, man sollte möglichst alle 15-Jährigen im Deutsch-Unterricht einen Aufsatz darüber schreiben lassen… (AW)
Dem ist nichts mehr hinzuzufügen, wir Netzfrauen bedanken uns bei allen, die diesen Beitrag möglich gemacht haben. Hoffen wir, dass wir damit viele junge Menschen erreichen werden, um zu zeigen: Es geht nicht, es ist der falsche Weg.
Original: ISIS Women and Enforcers in Syria Recount Collaboration, Anguish and Escape By AZADEH MOAVENI
Netzfrauen Lisa Natterer und Doro Schreier
Jordaniens Königin Rania redet Tacheles und fordert mehr Bildung als Waffe gegen ISIS
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