Whistleblower: Ex-Managerin von Nestlé wirft dem Konzern Mobbing vor

Nestle9Yasmine Motarjemi war Expertin für Nahrungsmittelsicherheit bei Nestlé, eine ranghohe Managerin. Zehn Jahre lang verbrachte sie ihr Berufsleben im Innersten des mächtigen Multis am Genfersee. 2010 wird sie fristlos entlassen. Gebrochen, gedemütigt, entmutigt. Bis heute hat Motarjemi keinen neuen Job gefunden.

Weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit kämpft die Rechtsabteilung von Nestlé gerade gegen die Klage einer ehemaligen Mitarbeiterin, die den Umgang des Konzerns mit der Lebensmittelsicherheit in ein schiefes Licht rücken könnte. Klägerin Yasmine Motarjemi wirft dem Unternehmen Mobbing vor. Der Fall ist unter der Aktennummer CC11.012142 hängig.

Der Nahrungsmittelgigant Nestlé  warben Yasmine Motarjemi im Jahr 2000 von der Weltgesundheitsorganisation WHO ab. Ihre Position als leitende Wissenschafterin machte sie für Nestlé zu einem perfekten Aushängeschild. Sie war bei der WHO maßgeblich an der Entwicklung des Präventionssystems für die Nahrungsmittelindustrie beteiligt – sogenannte «Gefahrenanalyse und kritische Kontrollpunkte», kurz HACCP.

Kaum hatte Motarjemi bei Nestlé angeheuert, landete auch schon der erste heikle Fall auf ihrem Schreibtisch. Es ging um Babynahrungsprodukte. «Die Niveaus von Vi­ta­­min A und D sind hoch genug, um ernsthafte Bedenken bezüglich der Lebensmittelsicherheit zu haben», warnte sie in einem internen Brief aus dem Jahr 2001, «wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir dafür belangt.». Sie stellt schnell viele Fehler bei der Lebensmittelherstellung fest. Mangelnde Hygiene in den Fabriken, falsche Dosierung bei Babypulver, verseuchte Rohstoffe, ungenügende Etikettierung der Produkte usw. Sie erzählt, dass es viele Missstände gab. Sie ist besorgt, meldet die Probleme jedes Mal, aber das Unternehmen reagiert in vielen Fällen nur langsam, nach mehreren Monaten.

Ein Jahr später tauchte das nächste ernste Problem auf, diesmal wieder mit Babybiscuits. Es kam zu zahlreichen Erstickungsanfällen bei Säuglingen, 44 Fälle ­allein in Frankreich. Motarjemi wollte die Produktion stoppen und intervenierte mehrfach. Mit wenig Erfolg. Sie wunderte sich und wies damals ihre Kollegen schriftlich darauf hin, dass man nicht erst auf Gesundheitsprobleme bei den Konsumenten warten dürfe.

Einer ihrer damaligen Kollegen war Anthony Huggett. Er ist heute Vizedirektor und Leiter der Abteilung Qualitätsmanagement. «Babys müssen erst lernen, feste Nahrung zu essen, und es kommt hie und da vor, dass sie sich verschlucken. Nur in sehr seltenen Fällen hat dies schwerwiegende Folgen», sagt Huggett zu den Fällen von damals. Man mache umfangreiche Produkttests, bevor ein Produkt auf den Markt komme. «Wir verbessern unsere Produkte laufend über die Jahre und berücksichtigen dabei die Rückmeldungen von Konsumenten.»

Ist also alles völlig harmlos? Übertreibt Motarjemi? Oder stellte der Schweizer Weltkonzern womöglich doch den Profit vor die Sicherheit?

Offenbar lief in den vergangenen Jahren manches schief. So gelangten etwa Anfang 2005 mehrere Tonnen vergiftetes Hundefutter der Firmentochter Nestlé Purina in Venezuela in Umlauf. Fast 500 Hunde starben an einer Überdosis Aflatoxin. «Das Rohmaterial wurde entgegen den internen Anweisungen nicht von Nestlé selbst getestet, sondern die Überprüfungen wurden den Lieferanten überlassen», sagt Motarjemi heute. «Wir wiesen die Öffentlichkeit sofort an, diese Produkte nicht mehr zu verwenden, und setzten auch Behörden und Tierärzte detailliert in Kenntnis», entgegnet Nestlé, leider hätten die Mitarbeiter dem Lieferanten «zu grosses Vertrauen» geschenkt.

Mitte 2005 folgte der nächste Eklat. Die italienischen Behörden beschlagnahmten Nestlé-Babynahrungslösungen, die mit der Tintenchemikalie ITX versetzt waren. Das Geschäft mit der Babynahrung gehört zum Bereich Nestlé Nutrition. Huggett saß damals im Krisenstab. Die kontaminierte Babynahrung wurde nicht sofort vollständig aus den Regalen entfernt. «Wir entschieden uns für einen stillen Rückzug der Produkte und ersetzten diese mit neuen, ITX-freien Kartons», sagt eine Konzernsprecherin. Die in der Milch vorhandenen Spuren seien unerheblich und für den Menschen unschädlich gewesen. Die EU akzeptierte zunächst die Untersuchungsergebnisse des Konzerns, ohne die Lebensmittelbehörde EFSA einzuschalten.

Dem damaligen italienischen Gesundheitsminister Francesco Storace genügte das nicht. Er ließ das betroffene Lagerhaus von Polizisten stürmen. Als der Druck von Medien und Behörden zu groß wurde, wollte Nestlé die Konsumenten beschwichtigen. Der Konzern zog dieselben Produkte auch in Frankreich und Spanien zurück. Die EFSA bestätigte im Nachhinein die Unschädlichkeit.

Motarjemi sagt, dass sie nicht nur in Krisensitzungen unentwegt vor Reputationsschäden gewarnt habe. «Verunreinigte Produkte mögen nicht immer gefährlich sein, sollten aber von einem Unternehmen, das die Lebensmittelqualität so hoch hängt, erst gar nicht angeboten werden.»

Auch in den Jahren danach ging die Pannenserie weiter. 2007 gelangte melaminverseuchtes Weizengluten zur Tiernahrungsherstellung aus China in die USA. Dieser Vorfall kam wie alle anderen Fälle auch in eine Datenbank bei Nestlé. «Der Konzern war also vorgewarnt», sagt Motarjemi. Dennoch erwischte es Nestlé 2008 ein weiteres Mal. Diesmal waren Fabriken in China mit dem Kunststoffbestandteil Melamin kontaminiert.

In Anwesenheit von Konzernchef Bulcke wurde nachträglich eine Krisensitzung in Vevey einberufen. Gemäß den Sitzungsunterlagen wurde die Frage diskutiert, warum das Melamin-Problem nicht früher erkannt wurde. Von den «großen Vorfällen» wollte man diesmal «für die Zukunft lernen». Die bisherigen Fälle reichten offenbar nicht, ein professionelles Krisenmanagement zu installieren.

«Kein Nestlé-Produkt wurde aus mit Melamin verunreinigter Milch hergestellt», entgegnet Huggett. Man habe dies belegen können. Die analytische Methode sei später zum international anerkannten ISO-Standard erhoben worden. «Für den Konsumenten nicht schädliche Spuren von Melamin kommen in der Lebensmittelkette vor», meint Huggett weiter. Man habe auch diese unerheblichen Spuren in China untersucht und herausgefunden, «dass sie auf das Futtermittel der Kühe zurückzuführen waren».

Doch reichten Nestlés analytische Methoden jemals aus? Immerhin erwischte es den Konzern wenige Jahre später wieder. Die US-Lebensmittelbehörde FDA entdeckte Fäkalbakterien in Nestlé-Keksteig in den USA. Die Tageszeitungen «New York Times» und «Washington Post» berichteten minutiös über die Krankengeschichten infolge von Kontaminationen mit E.coli-Bakterien. Die Konsumenten aßen den Teig roh, obwohl auf dem Produkt stand, dass man ihn zuerst erhitzen muss.

Der jüngste Vorfall ereignete sich im Sommer 2012. In Australien wurden Rezepte für Babynahrung umgestellt. In der Folge kam es bei Säuglingen zu Erbrechen, Durchfall und Hautausschlägen. Huggett erklärt, dass das Produkt sicher sei. Das Problem sei deshalb aufgetreten, weil ­einige Säuglinge, die mit der alten Formel vertraut waren, Mühe hatten, sich von ­einem Tag auf den andern an das neue Produkt zu gewöhnen.

Weshalb Nestlé die Änderung bei einem so heiklen Produkt nicht von sich aus kommunizierte, ist Branchenexperten ein Rätsel. «Die Behörden haben bestätigt, dass die Produkte jederzeit unbedenklich waren», sagt Huggett.

Von grundsätzlichen Mängeln im Umgang mit der Lebensmittelsicherheit will der Konzern nichts wissen. «Unser internes Qualitätssystem wird einem Audit unterzogen und von unabhängigen externen Zertifizierungsstellen geprüft, um das Übereinstimmen mit unseren eigenen internen Standards, den ISO-Standards sowie weltweit der jeweils geltenden lokalen Gesetzgebung aufzuzeigen», heisst es in Vevey. Im Bereich der Lebensmittel­sicherheit würden weltweit über 5000 Nestlé-Angestellte arbeiten, um sicherzustellen, «dass die 1,2 Milliarden Nestlé-Produkte, die täglich verkauft werden, den striktesten Qualitätsstandards entsprechen.»

Auch hier seien die Empfehlungen von Motarjemi ignoriert worden. «Wenn es so essenziell ist, das Produkt zu erhitzen, muss das den Konsumenten unmissverständlich klar sein. Die Kennzeichnung entsprach nicht den erforderlichen Standards», sagt die Expertin. Quelle Handelszeitung.ch vom 29.10.2012

Ab 2006 beginnt ihr Vorgesetzter, Motarjemi zu diskreditieren und bewusst auszugrenzen. Man entzieht ihr Abteilungs-Personal, überträgt ihr immer weniger Verantwortung, schließt sie aus Meetings aus. 2010 wird sie fristlos entlassen.

“Ich habe die Probleme gemeldet und mir damit viele Feinde gemacht. Einer davon wurde mein Chef. Er hat angefangen, mich zu mobben. Ich wurde gemobbt und mir wurde das Gefühl vermittelt, schuldig zu sein. Ich habe nicht verstanden, was vor sich ging. Von heute auf morgen wurde meine Arbeit nicht mehr geschätzt. Ich war plötzlich unsichtbar, ich existierte nicht mehr. Dieses Gefühl ist so schmerzhaft, dass man nicht mehr leben will,” so Yasmine Motarjemi.

Sie wird ins Abseits gedrängt und darf kein Team mehr leiten. Nach vier Jahren Mobbings wird sie entlassen. Yasmine Motarjemi leidet bis heute an einer schweren Depression. Sie will sich aber nicht unterkriegen lassen. Sie fordert von Nestlé eine finanzielle Entschädigung und will, dass die Verantwortlichen der Misstände verurteilt werden.

Im Dezember begann der Prozess. Sie sagt: “Es gibt viele Menschen, die sich mit dem Konzern geeinigt haben. Sie gehen zu etwas anderem über und leben ihr Leben weiter. Ich kann das verstehen, denn manchmal haben sie keine andere Möglichkeit. Sie sind gezwungen, eine Einigung zu akzeptieren, weil sie keine Mittel haben oder weil ihnen die Kompetenz oder die Beweise fehlen. Denn man braucht Beweise. Ich habe den Willen und die Beweise. Ich habe den Willen, die Beweise und bin dazu fähig. Es nicht zu machen, wäre ein Verbrechen.”

Der Prozess ging am 15. Juni 2014 mit der Anhörung der Klägerin in seine erste Phase. Dabei ging es darum, das Vorgehen und die Liste der Zeug/innen festzulegen, die im Verfahren befragt werden. Im Dezember 2014 entschied der Richter über das Vorgehen. Nestlé reichte wie bereits beim Eintretensentscheid umgehend Rekurs ein. Bis zum Urteil der Beschwerdeinstanz war der Fall auf Eis gelegt. Die Verzögerungstaktik ist ein Vorgehen, das Nestlé bereits früher – beispielsweise im Fall „Luciano Romero“ – erfolgreich angewendet hat.

Infobox

Nestle3Das ECCHR beschuldigt Nestlé, den Tod des Gewerkschafters Luciano Romero durch Unterlassen von Schutzmaßnahmen mit verursacht zu haben. Romero hatte Todesdrohungen erhalten. Der gewaltsame Tod Romeros war kein Einzelfall. Seit Mitte der 80er Jahre waren fast 3000 Gewerkschafter getötet worden, 13 von ihnen arbeiteten laut ECCHR für Nestlé.

Wie wir Netzfrauen bereits mehrfach berichteten, reichten im März 2012 die Menschenrechtsorganisation «European Center for Constitutional and Human Rights» und die kolumbianische Gewerkschaft Sinaltrainal, in Zug Strafanzeige gegen fünf der (ehemaligen) Manager des Lebensmittelkonzerns Nestlé ein. Gegenstand der Anzeige ist die Rolle des Unternehmens und der Direktoren bei der Ermordung des kolumbianischen Gewerkschaftsführers Luciano Romero im Jahre 2005.

Romero hatte bis Sommer 2002 in der Milchverarbeitungsfabrik Nestlés Cicolac in Valledupar gearbeitet und vertrat die Arbeitnehmerschaft als Gewerkschafter. Im September 2005 wurde er in Valledupar, im Nordosten Kolumbiens von Paramilitärs entführt, zu Tode gefoltert und mit 50 Messerstichen ermordet. Lesen Sie hier den Fall: Nestlé-Skandal – Beschwerde gegen Schweizer Justiz am Europäischen Menschenrechtsgericht

Am 1. Dezember 2015 war eine zweite Phase des Prozesses. An diesem Tag wurde Yasmine Motarjemi vom Richter einen ganzen Tag lang angehört. Am 16. Dezember 2015 mussten vier der obersten CEOs antreten, nämlich:

  • Paul Bulcke, CEO, Nestlé
  • Jean- Marc Duvoisin, CEO, Nespresso
  • Francisco Castañer, ex-Generadirektor mit Verantwortung für Personal und Administration, Nestlé
  • José Lopez, Generaldirektor für Konzernoperationen, Nestlé

Die Anhörungen fanden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Zugang haben nur akkreditierte Journalisten. Das Verfahren wird wohl noch bis in den Frühsommer 2016 dauern.

„Alles geht den Bach runter: Die Karriere, die Gesundheit, das Geld und die Familie. Warum muss man so sehr leiden und warum wird man so ausgegrenzt, nur weil man die Wahrheit gesagt hat?“

Politik-, Finanz- und Gesundsheitsskandale kommen oft durch Whistleblower ans Licht. Manche von ihnen sind bekannt, andere nicht. Aber sie alle zahlen einen hohen Preis.

Weitere Whistleblower finden Sie in dem aktuellen Beitrag auf euronews : Whistleblower: Der hohe Preis der Wahrheit

Wir wünschen Yasmine weiterhin viel Kraft.

Netzfrau Doro Schreier

Informationen auch auf.multiwatch.ch/ 

Whistleblower-Preis 2015: Ex-US-Drohnenpilot Brandon Bryant

2015 Whistleblower Award: Prof. Gilles-Eric Séralini

Whistleblower-Preis 2013 – Verleihung an Edward J. Snowden

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Menschenrechtsverletzungen: Klage gegen Nestlé abgewiesen

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