Weltweit werden über 400 Reaktoren betrieben, weitere 67 sind im Bau – vor allem China, Indien und Russland erweitern ihren vorhandenen Bestand.
Zum 30jährigen ‚Jubiläum’ formulierten das Universitätsprofessoren in Salzburg so:
„Die Frage der Lernfähigkeit der Menschheit sei erlaubt.“
Am 26. April 1986 kam es im Atomkraftwerk von Tschernobyl zum bisher schwersten Unfall in der Geschichte der Kernenergie. Zwei Explosionen zerstörten einen der vier Reaktorblöcke und schleuderten radioaktives Material in die Atmosphäre, das weite Teile Russlands, Weißrusslands und der Ukraine verseucht. Die radioaktive Wolke zog bis nach Mitteleuropa und zum Nordkap.
Und das kann jederzeit wieder irgendwo passieren, weil überall dort, wo Menschen arbeiten, Fehler passieren können. Genau wie seinerzeit in Tschernobyl. Orte gibt es genügend:
Anzahl der Atomkraftwerke (Stand Nov. 2016)
- Niederlande 1
- Armenien 1
- Iran 1
- Slowenien 1
- Südafrika 2
- Brasilien 2
- Rumänien 2
- Mexiko 2
- Bulgarien 2
- Argentinien 3
- Finnland 4
- Ungarn 4
- Slowakei 4
- Pakistan 4
- Schweiz 5
- Tschech. Rep. 6
- Belgien 7
- Spanien 7
- Deutschland 8
- Schweden 9
- England 15
- Ukraine 15
- Kanada 19
- Indien 22
- Südkorea 25
- China 35
- Russland 36
- Japan 43
- Frankreich 58
- USA 99
- Das Durchschnittsalter der Atomreaktoren (Stand Juli 2016) in Jahren
- Niederlande 43
- Schweiz 41
- Belgien 36
- Schweden 36
- USA 36
- Taiwan 34
- England 32
- Japan 32
- Spanien 31
- Frankreich 31
- Russland 30
- Deutschland 30
- Indien 20
- Südkorea 19
- China 6
- Anteil Atomenergie an Stromerzeugung (Stand 2015) in %
- Frankreich 76
- Ukraine 56
- Slowakei 55
- Ungarn 52
- Slowenien 38
- Belgien 37
- Armenien 34
- Schweden 34
- Finnland 33
- Schweiz 33
- Südkorea 31
- Bulgarien 31
- Spanien 20
- USA 19
- Rumänien 17
Die atomare Katastrophe in Tschernobyl vor genau 31 Jahren ist erst mit tagelanger Verzögerung und „auf Raten“ bei den Österreicherinnen und Österreichern angekommen. Das hatte vor allem damit zu tun, dass die damalige Sowjetunion den Super-GAU tagelang geheim hielt – und auch danach Informationen nur zögerlich weitergab.
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Erst am 28. April 1986, zwei Tage nach der Katastrophe, gab die sowjetische Führung erstmals Probleme zu. Die APA brachte an diesem Abend genau während der laufenden Zeit im Bild 1 um 19.36 Uhr die erste Meldung.
Erste unscheinbare Meldung
Wörtlich hieß es darin: „Im Kernkraftwerk Tschernobyl nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist es nach einer Meldung der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS vom Montag zu einem Unfall gekommen. Ein Reaktor sei beschädigt, zurzeit seien Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen des Unfalls im Gang, den Betroffenen werde Hilfe zuteil. Der genaue Zeitpunkt des Unfalls ging aus der Meldung nicht hervor.“ Weiter hieß es bloß, dass zur Klärung der Unfallursache eine Regierungskommission eingesetzt worden sei.
Am Tag darauf, pünktlich um 19:30 Uhr, begrüßte der damalige Moderator Günter Schmidt die Zuseherinnen und Zuseher mit folgenden Schlagzeilen: „Guten Abend, meine Damen und Herren bei der Zeit im Bild 1 – das sind unsere heutigen Berichte: Atomkatastrophe bei Kiew – ein Reaktor brennt – bisher noch keine Klarheit über die Art des Unfalls. Radioaktive Strömung nach Skandinavien. Die Sowjetunion bittet das Ausland um Hilfe. Auch in Österreich ist die Strahlenbelastung geringfügig angestiegen. Sie beträgt aber nicht einmal ein Tausendstel des Wertes, der als gesundheitsschädlich gilt.“
VIDEO: http://orf.at/stories/2336200/2336211/
Erste Vorboten
Am Tag davor – während die ersten Agenturmeldungen zum GAU über die Fernschreiber ratterten – hatte die Zeit im Bild 1 über die Vorboten der Katastrophe berichtet: In Finnland und Schweden waren auf Grund der herrschenden Windströmung erste radioaktive Wolken von Tschernobyl angekommen. Das schwedische AKW Forsmark wurde evakuiert, nachdem bei Mitarbeitern erhöhte Strahlung gemessen wurde.
Die Angst vor dem Wetter
Die Berichterstattung drehte sich jedenfalls in diesen Tagen fast ausschließlich um die Reaktorkatastrophe und ihre Folgen. Besonders wichtig in diesen Tagen war der Wetterbericht: Von der Wetterlage hing es entscheidend ab, welche Regionen besonders betroffen sein würden. Am 30. April war die Wettervorschau – für Österreich – günstig, wie der damalige Wetter-Moderator Carl-Michael Belcredi den Zuseherinnen und Zusehern erklärte
„Die Emissionen bleiben meist ortsfest“, erklärte Belcredi am 30. April 1986 die Großwetterlage. „Der Höhepunkt der Strahlenbelastung dürfte vorbei sein.“ Nachsatz: „Zumindest vorerst“.
Minister und Experten beruhigen
Dem damaligen Gesundheitsminister und Ex-ORF-Journalisten Franz Kreuzer warfen Kritiker vor, die Katastrophe zu verharmlosen. „Für die Österreicher besteht kein Grund zur Panik. Die derzeitige Situation verlangt aber höchste Wachsamkeit“, stellte er fest. Die 1.-Mai-Aufmärsche gingen wie geplant über die Bühne.
Tatsächlich trafen auch unglückliche Umstände zusammen: Das Gesundheitsministerium war wenige Tage vor der Reaktorkatastrophe umgesiedelt. „Wir haben unsere Übersiedlungspakete suchen müssen“, erzählte ein damaliger Beamter gegenüber der APA von dem nicht nur durch „Tschernobyl“ ausgelösten Chaos. Kreuzer habe die Katastrophe für sich mit den Worten charakterisiert: „Das ist eine Recherche.“
Einige Tage später meinte der damalige Seibersdorf-Strahlenschützer Ferdinand Steger beruhigend: „An radioaktivem Cäsium dürften die Österreicher in etwa zwölf Prozent des für die Normalbevölkerung nach der Strahlenschutzverordnung zulässigen Höchstwertes abbekommen haben.“ Ähnlich äußerte sich auch ein Strahlenschutzexperte in einem TV-Beitrag, in dem er, über einen Markt wandernd, alle Lebensmittelkategorien auf ihre Strahlengefährdung besprach.
Der Ernährungswissenschaftler Werner Pfannhauser erklärte in der ersten „Wochenschau“ nach der Katastrophe, dass eine akute Gefährdung nicht vorstellbar sei, wiewohl ein „Restrisiko“ bleibe.
Österreich besonders belastet
Im Nachhinein stellte sich freilich heraus, dass Österreich zu den am meisten belasteten Ländern West- und Mitteleuropas gehörte und gehört. Besonders das Salzkammergut, die Welser Heide und die Hohen Tauern sind betroffen. Daneben auch die Niederen Tauern und Südostkärnten.
Immer wieder gibt es seither Berichte, dass die Reaktorkatastrophe die Zahl der Krebserkrankungen ansteigen ließ. Zuletzt behauptete das ein britischer Experte im März dieses Jahres. Tatsächlich begann die Zahl der Schilddrüsenkrebserkrankungen vier Jahre nach der Katastrophe zu steigen. Einen eindeutigen Nachweis, dass das eine direkte Folge der Tschernobyl-Katastrophe ist, gibt es allerdings nicht – mehr dazu in science.ORF.at.
Milch, Blattgemüse wie Spinat und Salat und später auch Fleisch durften im Sommer und Herbst 1986 phasenweise nicht verkauft werden. Erst im Winter normalisierte sich die Situation langsam. Besonders Lebensmittel, die aus dem Wald kommen – Schwammerln, Wildschwein und anderes Wild – sind auch heute noch deutlich stärker mit Cäsium 137 belastet.
Die Folgen sind bis heute messbar. Während Jod eine Halbwertszeit von acht Tagen hat, liegt sie bei Cäsium-137 bei 30 Jahren. Heute ist also erst die Hälfte der radioaktiven Substanzen verschwunden. Dort, wo nach dem 29. April viel Regen fiel, besonders im Wald- und im alpinen Bereich, ist die Cäsium-Belastung noch immer höher. Etwa in Wels, Gmunden, Salzburg. Mit Spitzen am Traunstein, in Hörsching in Oberösterreich oder in Freiland bei Deutschlandsberg in der Weststeiermark. Die aktuellen Werte können über eine Karte beim Umweltbundesamt von jedem eingesehen werden.
Gefährlich ist das für den Menschen nicht, sagen sowohl Experten der Ages, der Österreichischen Agentur für Ernährungssicherheit als auch des Umweltbundesamtes. Seit Jahren werden immer wieder Messungen durchgeführt. Sie alle kommen sinngemäß zum gleichen Ergebnis: Bis heute ist Cäsium in Milch, häufig auch in Rindfleisch nachweisbar. Die Mengen seien aber so gering, dass sie ohne Bedenken verzehrt werden können.
Allerdings ist immer wieder eine Belastung über dem Grenzwert bei Wildpilzen (besonders Maronenröhrlingen, aber auch Eierschwammerln) und in Wild in belasteten Gebieten nachweisbar. So hat die Ages in einer Studie 2016 die Tschernobyl-Auswirkungen auf große Waldgebiete untersucht. Bei 15 von 16 Wildschweinproben wurde der Grenzwert überschritten, zum Teil um das Siebenfache. Im Wald werde der Boden nicht beackert, erklärt Karl Kienzl vom Umweltbundesamt. Das Cäsium bleibe daher in den oberen Schichten erhalten. Wildtiere nehmen es durch die Nahrung auf, Pilze durch die Wurzeln. Wer ein paarmal Wild mit einem hohen Cäsium-Gehalt isst, müsse sich noch keine Sorgen machen, sagt Christian Katzlberger, Leiter der Abteilung Strahlenschutz bei der Ages. Laut einer Studie der Ages macht die Reststrahlung aus dem Tschernobyl-Fallout nur einen sehr kleinen Anteil an der normalen Strahlenbelastung der Österreicher (etwa durch kosmische Strahlung oder medizinische Behandlung) aus.
Während Ackerböden in Süddeutschland heute kaum noch belastet sind, sind besonders die Folgen für Wildschweine bis heute nicht voll verstanden: Manche sind stärker radioaktiv belastet als direkt nach der Katastrophe.
Für Landwirte war der radioaktive Fallout vor allem direkt nach dem Unfall von Tschernobyl ein Problem. Die Milch aus den betroffenen Gebieten Bayerns wurden 1986 durch belastetes Futter sogar zum Politikum. Zu Molkepulver verarbeitet, wechselte eine Menge von 242 Eisenbahnwaggons mehrfach den Besitzer und lagerte zwischenzeitlich sogar in einem atomaren Zwischenlager. Die Bundesregierung sah sich gezwungen, allzu stark mit Cäsium belastete Molke aufzukaufen. Die Kosten der Molke hatte sich vervielfacht, bis fast drei Jahre später ein Verfahren gefunden war, das Cäsium aus dem Pulver abzutrennen, um die Molke gereinigt zumindest als Dünger auf Felder ausbringen zu können.
Insgesamt hielt sich die Belastung landwirtschaftlicher Produkte aus Deutschland allerdings in Grenzen, was an der Zusammensetzung des Fallouts lag. Denn was aus den Wolken regnete, waren vor allem die flüchtigsten Zerfallsprodukte aus dem Reaktorkern mit eher kurzen Zerfallszeiten. Während schwere Kerne wie Uran und Plutonium fast ausschließlich im Umfeld Tschernobyls niedergingen, schafften es das Leichtmetall Zäsium in Form von Aerosol-Kügelchen und das leicht zu verdampfende Jod über die Atmosphäre bis nach Deutschland. Das freigesetzte Jod-131 war mit einer Halbwertszeit von wenigen Tagen schnell zerfallen. Dagegen zerfällt Cäsium-134 erst nach fünf Jahren zur Hälfte und belastete somit manche süddeutsche Äcker mäßig. Trotzdem war die Belastung in den meisten Lebensmitteln schon nach mehreren Monaten stark gesunken.
Obwohl Cäsium eher langsam zerfällt, kann es auf Ackerböden vergleichsweise schnell verschwinden: Aus der obersten Bodenschicht wird das Nuklid mit dem Regenwasser rapide ausgewaschen. „Was dann noch im Boden verbleibt, wird sehr effizient an die Oberflächen der Tonminerale angelagert oder sogar eingebaut, weil sie eine für Cäsium passende Sandwichstruktur bieten“, sagt Georg Steinhauser vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover. Dieses gebundene Cäsium ist für Wurzeln kaum noch erreichbar.
Ein Teil des häufigsten Isotops aus dem Fallout bleibt: Cäsium-137. Seine Halbwertszeit liegt bei 30 Jahren, die gerade erst abläuft. Das heißt, die Hälfte des Metalls steckt vor allem noch in Waldböden. Denn die werden nicht gepflügt und nur wenig ausgewaschen. Im Gegenteil: Im Wald funktioniert das Recycling sehr gut. Pflanzen, Tiere und Pilze geben das Cäsium zwar nach ihrem Tod ab. Aber wenn Kadaver und Pflanzenteile verwesen, werden sie von Bodenorganismen zersetzt und von Pflanzen und vor allem Pilzen wiederum als Nährstoffe verwendet. Der Kreislauf beginnt von vorn.
„Wildschweine sind für uns dagegen ein Mysterium“, sagt Georg Steinhauser. Denn unter den erlegten Tieren sind immer noch einige schwer mit Zäsium-137 belastet. Vor allem aber der zeitliche Trend erscheint verwirrend: Steinhauser analysierte die Belastung geschossener Wildschweine über die Jahrzehnte und verglich sie mit Messwerten von Tieren aus der japanischen Präfektur Fukushima. Der hiesige durchschnittliche Gehalt von Cäsium-137 sei in den letzten 30 Jahren gleich geblieben oder sogar leicht angestiegen. Spitzenreiter ist ein 2013 in der Oberpfalz im Landkreis Cham erlegtes Wildschwein. Das Tier sei mit 9800 Becquerel pro Kilogramm sogar rund 20 Prozent schwerer belastet als das höchstkontaminierte Wildschwein aus der Präfektur Fukushima. „Hier haben wir Regionen, wo vereinzelt Wildschweine stärker belastet sind als in den 1980er-Jahren“, sagt Steinhauser. Und das, obwohl Bayern rund 1400 Kilometer von Tschernobyl entfernt liegt und nun schon über die Hälfte des Cäsiums im Boden zerfallen ist.
Die Ursachen dafür lassen sich auch wegen der Lebensweise von Wildschweinen schwer aufklären. Sie sind als Allesfresser in der Lage, ihre Nahrungsbasis schnell umzustellen. Solange sie am Waldboden noch Eicheln oder Bucheckern finden, ist ihre Kost cäsiumarm. Auch Feldfrüchte wie Mais sind eine beliebte Futterquelle, solange sie auf den Äckern stehen. Zieht sich aber ein Winter in die Länge oder ist der Boden dauerhaft schneebedeckt, beginnen die Tiere zunehmend nach Nahrung zu graben. Auch wenn durch zu geringe Jagdquoten die Population stark ansteige, könnte der Druck auf Nahrung im Waldboden zunehmen.
Hungrige Wildschweine graben so tiefe Löcher in den Waldboden, dass sie in nach wie vor radioaktiv verseuchte Regionen vorstoßen. Das ist ein Erklärungsansatz der Wissenschaftler dafür, wieso die Belastung von Wildschweinen immer noch hoch ist.
Warum aber die Zahl stärker belasteter Wildschweine aus Risikogebieten bis heute kaum zurückgeht, bleibt weiter ein Rätsel. Georg Steinhauser vom Institut für Radioökologie und Strahlenschutz an der Universität Hannover sieht eine der möglichen Erklärungen auch im Wildschwein selbst. „Irgendwo in dessen Körper könnte es eine Senke für Cäsium geben“, vermutet er. Der Physiker beginnt momentan ein Forschungsprojekt mit Veterinärmedizinern der Universität Wien, um die Organe erlegter Wildschweine genauer zu untersuchen.
Die erneute Untersuchung im Jahr 2016 des Tschernobyl-Super-GAUs kommt zu dem Ergebnis, dass in Summe mindestens 40 000 Todesfälle weltweit durch die Reaktorkatastrophe zu beklagen sein werden. Nach Weißrussland war Österreich mit 13 Prozent seiner Gesamtfläche weltweit am zweitstärksten von der hohen Cäsium-Belastung der Tschernobyl-Katastrophe betroffen, auch radioaktives Jod traf Österreich stark.
Neue Daten zeigen einen Anstieg von Schilddrüsenkrebsfällen auch in Österreich, ähnlich wie vergleichbare Studien in anderen Ländern. Verstärkte Überwachung, Diagnose und medizinische Expositionen zu radioaktivem Jod sind teilweise die Ursache, aber 8 % bis 40 % der erhöhten Schilddrüsenkrebs-Fälle in Österreich nach 1990 sind wahrscheinlich auf Grund von Tschernobyl aufgetreten.
Die Ergebnisse neuer Studien liefern zuverlässige Daten zu erhöhten Fällen von Leukämie, Tumoren, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, psychischen Leiden, Fehlbildungen bei Neugeborenen und andere Strahleneffekte in den am stärksten betroffenen Ländern.
Kinder, die in hoch belasteten Gebieten leben und kontaminierte Nahrung zu sich nehmen, leiden unter einem verschlechterten Gesundheitszustand. Auslandsaufenthalte sind von großem Vorteil für die „Kinder von Tschernobyl“.
Im November 2016 haben Spezialisten in einem historischen Schritt eine gigantische Schutzhülle über die Atomruine geschoben. „Yes, wir haben es geschafft“, sagte Staatschef Petro Poroschenko bei einem Festakt nahe dem havarierten Atomkraftwerk. Der neue Sarkophag garantiere 100 Jahre Sicherheit vor radioaktiver Strahlung, sagte er.
Die neue, mehr als 36 000 Tonnen schwere Schutzhülle gilt als Meilenstein im Kampf gegen tödliche Strahlung. Sie soll jenen Betonsarkophag ergänzen, der von der Sowjetunion nach der Kernschmelze vor 30 Jahren errichtet worden war.
Größte jemals gebaute bewegliche Konstruktion
„Vergleichen Sie das Objekt hinter mir mit dem Eiffelturm oder der Freiheitsstatue“, sagte Poroschenko. „Das ist die größte bewegliche Konstruktion, die jemals von der Menschheit gebaut wurde.“ Ein System aus Hydraulik und Spezialschienen hatte die Hülle in den vergangenen 14 Tagen über die Atomruine geschoben. Die letzten Vorbereitungen verrichteten Arbeiter bei Schneetreiben.
Geldgeber, vor allem die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung, hatten für die Konstruktion mehr als zwei Milliarden Euro aufgebracht.
Tschernobyl wird auch in Zukunft ein Ort der Superlative bleiben. Die chinesische Firma GCL setzt auf durch Umweltschäden verseuchten Boden als Standorte für Solar- und Windkraftanlagen – etwa Tschernobyl. „Wir versuchen, die geschädigte Gegend mit grüner und erneuerbarer Energie zu sanieren, das wird beachtliche soziale und wirtschaftliche Vorteile bringen“, sagte GCL-SI-Chef Shu Hua. Der Bau der 1-Gigawatt-Anlage in der Ukraine sei Teil der internationalen Expansionspläne. Auch im Heimatland setzen die Chinesen auf durch Umweltschäden verseuchten Boden als Standorte für Solar- und Windkraftanlagen.
Tschernobyl wird weltweit mit hoch radioaktiver Verseuchung verbunden. Ein Synonym für die größte nukleare Katastrophe der Geschichte, ein Synonym für Schrecken, Leid und Tod. Doch ganz so lebensfeindlich ist die Sperrzone rund um das Kernkraftwerk gar nicht mehr. Natur- und Tierwelt erobern die vom Menschen eingenommen Lebensräume zurück, während Tausende Arbeiter und Touristen Tag für Tag in die Sperrzone strömen.
Eine hochgradig verseuchte Umgebung, in der kein Leben möglich ist und der Tod hinter jeder Ecke lauert. So in etwa stellen sich viele Menschen die 4300 km² große Sperrzone rund um das Kernkraftwerk Tschernobyl vor. Doch weit gefehlt. Zwar ist es nach wie vor äußerst gefährlich, sich innerhalb der Zone zu bewegen, dennoch halten sich täglich mehrere tausend Menschen in der Zone auf und auch Tiere sind keineswegs ausgestorben. Das liegt vor allem daran, dass bei der Katastrophe selber nur vergleichsweise geringe Mengen radioaktives Material in die Luft gelangten und durch den Wind in Richtung Zentraleuropa getragen wurden. Nur wenig Material hat die Zone selber verseucht, weshalb der Aufenthalt zunächst einmal recht ungefährlich ist.
Im Durchschnitt liegt die Strahlenbelastung nur wenig höher als die der Normalstrahlung, welcher wir jeden Tag hier in Deutschland ausgesetzt sind. Längere Aufenthalte werden jedoch trotzdem nicht empfohlen, da die Strahlenbelastung dennoch stark schwanken kann, zudem stellen Hot Spots eine tödliche Gefahr dar.
Gerade die Hot Spots sind stärker verseucht und werden es noch einige hundert Jahre bleiben. Die Halbwertszeit des radioaktiven Isotops Cäsium-137, das hauptsächlich bei der Katastrophe in die Umwelt geschleudert wurde, liegt bei ungefähr 30 Jahren. Das heißt: Heute, 30 Jahre nach der Katastrophe, hat sich die Menge der gefährlichen Nuklide erst halbiert. Experten sagen, dass erst nach zehn Halbwertszeiten, also 300 Jahren, davon gesprochen werden kann, dass das Cäsium nicht mehr vorhanden ist.
Die wirklich gefährlichen radioaktiven Stoffe wie Plutonium und Uran, beide mit jahrtausenden Jahren langen Halbwertszeiten, haben sich Gott sei Dank zum größten Teil im Inneren des Reaktorblocks 4 zu einer lavaartigen Masse verbunden. Bleibt nur zu hoffen, dass diese Stoffe nicht mehr ans Tageslicht gelangen. Weitere Informationen sind unter Strahlenbelastung durch Tschernobyl zu finden.
Jeden Tag reisen bis zu 3000 Arbeiter in die Sperrzone, um dort am Bau der neuen Schutzhülle mitzuwirken, radioaktiven Müll zu entsorgen oder andere, wichtige Gebäude zu errichten. Die meisten kommen aus dem 50 km östlich gelegenem Ort Slawutytsch. Neben dem Bau der neuen Schutzhülle arbeiten Hunderte Menschen daran, Hunderttausende Kubikmeter radioaktiven Mülls zu bergen und zur Beseitigung in Richtung Atomkraftwerk zu befördern. Denn auf einem Gelände der Größe von 120 Fußballfeldern wurde nach der Katastrophe und während des weiteren Betriebs des Kraftwerks schwach radioaktives Material in Gräben gekippt und zugeschüttet. Zudem befinden sich knapp 21 000 Brennstäbe aus den Reaktoren 1 bis 3 in einem Nasslager und rosten dort vor sich hin.
Während in der Zone fleißig am Atommüllabbau und der neuen Schutzhülle gearbeitet wird, besteht eine große Chance, Touristen über den Weg zu laufen. Trotz der schrecklichen Vergangenheit lassen es sich jährlich Tausende Abenteuerlustige und Interessierte nicht nehmen, die Zone zu bereisen. Mit entsprechender Genehmigung ist es möglich, die Zone zu bereisen und neben dem Atomkraftwerk und dessen Schutzhülle auch Prypjat zu besuchen und beeindruckende Fotos zu machen.
Weitere Informationen sind unter Reise nach Tschernobyl zu finden. In der Galerie wurden einige interessante Fotos gesammelt.
Wirtschaftliche Folgen
Neben sozialen und gesundheitlichen Folgen beeinträchtigte der Unfall die wirtschaftliche Produktion in vielen Regionen der Ukraine, Weißrusslands und der Russischen Föderation. Das vorerst notwendige Abstellen der gesamten Reaktoranlage verursachte starke Einbußen in der Stromherstellung. Durch die radioaktive Verstrahlung von Feldern, Wäldern und Gewässern verzeichneten Landwirtschaft und Industrie in allen drei Staaten signifikante Produktionsausfälle. Für 5120 Quadratkilometer Agrarland und 4920 Quadratkilometer Forstgebiet wurde die wirtschaftliche Nutzung eingeschränkt.
Durch die Evakuierungsmaßnahmen mussten zusätzliche Gebäude errichtet werden. Zwischen 1986 und 1987 wurden 23 000 Häuser gebaut. Den insgesamt 116 000 umgesiedelten Menschen wurden 15 000 Wohnungen zur Verfügung gestellt. 800 zusätzliche Gebäude für soziale Einrichtungen, wie Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser und Polizeistationen wurden errichtet. Für die evakuierte Bevölkerung der Satellitenstadt Pripjat wurde eine neue Stadt, Slavutych, gegründet.
Die wirtschaftlichen und finanziellen Hilfsmaßnahmen der Regierungen in den kontaminierten Gebieten waren in erster Linie konzentriert auf:
- Gesundheitliche Untersuchung und Versorgung der Bevölkerung
- Versorgung der evakuierten Menschen
- Säuberung der verstrahlten Regionen
- Wiederaufbau von Wirtschaft und Industrie
- Materielle und finanzielle Entschädigung von Individuen und Unternehmen
Psychologische Folgen
Den Bürger/innen wurde Tschernobyl immer als absolut unfallsicher dargestellt. Die Ursache für psychische Erkrankungen zeigte sich vor allem in einem verstärkten Misstrauen der Bevölkerung gegenüber der Regierung und den Politiker/innen. Die Bürger/innen fühlten sich nicht ausreichend über den Unfall und seine möglichen Folgen aufgeklärt. Ungewiss war, ob auch die Zivilbevölkerung von der entwichenen Strahlung betroffen war. Falls ja, war unklar, wo sich der betroffene Kreis befindet und wie viele davon betroffen sind. Der massive Vertrauensverlust wurde auch auf andere Bereiche in Politik und Gesellschaft übertragen.
Zusätzliche psychische Belastungen entstanden in der Folge der Umsiedelung der Bewohner/innen in der unmittelbaren Kraftwerksumgebung. Betroffen waren in erster Linie ältere Menschen. Sie können sich nur schwer an eine neue Umgebung gewöhnen.
Mit Sicherheit haben psychologische Folgen in Kombination mit Angst und Ungewissheit die Lebensqualität nachteilig beeinflusst. Es liegt in der Natur statistischer Phänomene wie der durchschnittlichen radioaktiven Belastung, dass von der Wissenschaft nur sehr wenige Aussagen über den/die Einzelne/n getroffen werden können. Genau dies gestaltet sich als großes Problem für die Betroffenen.
Biosphärenreservat
Gut 30 Jahre nach der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat die Ukraine die 30-Kilometer-Schutzzone um den havarierten Reaktor in ein Biosphärenreservat umgewandelt. Ein entsprechender Erlass von Staatschef Petro Poroschenko trat im August 2016 in Kraft, wie das Präsidialamt in Kiew mitteilte. Vorausgegangen waren Gesetzesnovellen, die den Bau von Windkraft- und Solaranlagen sowie wissenschaftliche Forschung in der rund 227 000 Hektar großen Region ermöglichen.
Die Natur erobert Tschernobyl zurück
In den 30 Jahren seit der Atomkatastrophe von Tschernobyl hat sich die Natur die Todeszone zurückerobert – überall wachsen Sträucher und Bäume, auch in Europa selten gewordene Tiere leben dort wieder. Bären, Wölfe, Luchse und Elche – wer solche selten gewordenen Tiere sehen möchte, findet sie in Tschernobyl. „Als die Menschen gingen, kam die Natur“, sagt Denis Wischnewski, der als Biologe im Sperrgebiet rund um den havarierten Reaktor arbeitet.
Wischnewski spricht von einer „Renaissance der Natur“. Andere Wissenschaftler sind weniger euphorisch. „Natürlich breiten sich einige Tiere aus, wenn man ein Gebiet abschottet“, sagt der Biowissenschaftler Tim Mousseau, der mit seinem Team seit Jahren die Artenvielfalt in Tschernobyl und neuerdings auch im japanischen Fukushima untersucht. Aber das dürfe nicht über die fatalen Folgen der Verstrahlung hinwegtäuschen, sagt er. „Selbst der Ruf des Kuckucks ist davon betroffen.“
„Die Wahrheit über Tschernobyl ist bis heute gefangen.“ Interview zu „Stimmen aus Tschernobyl“
Spätestens seit 2015 ist die belarussische Schriftstellerin und Journalistin Swetlana Alexijewitsch weltweit bekannt. Da gewann sie nämlich den Literaturnobelpreis, die höchste literarische Auszeichnung. Bereits zuvor hatte sie diverse Preise gewonnen, unter anderem 2013 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Der internationale Durchbruch gelang Alexijewitsch 1997 mit „Stimmen aus Tschernobyl. Chronik der Zukunft“. Die deutsche Erstausgabe war 2001 erhältlich. Ihr Genre ist der „Roman in Stimmen“, wie Alexijewitsch es selbst nennt: In ihren Werken stellt sie Interviews mit Zeitzeugen zu poetischen Collagen zusammen. Alexijewitsch lässt den Menschen Raum zu sprechen, gibt denen eine Stimme, die sonst nicht gehört werden oder vielmehr nicht gehört werden sollen. So auch in „Stimmen aus Tschernobyl. Chronik der Zukunft“. Dieser Roman wird nun von Elżbieta Bednarska als Theaterstück inszeniert. Elżbieta lebt und arbeitet in Berlin und Wrocław.
Prof. Harald Lesch erklärt, was damals geschah:
Angesichts dieses Geschehens in Tschernobyl vor 31 Jahren und des Unfalls 2011 in Fukushima kann das eingangs erwähnte Zitat nur wiederholt werden: „Die Frage der Lernfähigkeit der Menschheit sei erlaubt.“
Wenn Sie wissen wollen, woher diese Informationen kommen, gehen Sie doch unseren Quellen nach, aus denen wir Details entnahmen. Dorthin gelangen Sie, wenn Sie die blau unterlegten Wörter anklicken.
Netzfrau Lisa Natterer
Chernobyl: The Last Lament – Tschernobyl: Die letzte Klage – Horror ohne Ende
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Atomic Africa – Industriestaaten verseuchen nun Afrika mit Kohle- und Atomkraftwerken