Der weiße Zaun

Jeder glaubt von sich, er habe den größten Rucksack zu tragen und die Anderen haben keine bzw. viel kleinere Rucksäcke. Aus der Ferne sehen die Probleme der Anderen oft klein und nichtig aus, bei näherem Betrachten erweisen sie sich aber als recht groß und schwerwiegend. Doch was wäre, wenn wir einfach unsere Sorgen und Nöte tauschen würden?

Nehmen wir an, Sie könnten Ihren Rucksack mit all dem, was sich an Sorgen und Nöten in Ihrem Leben angesammelt hat, einfach abgeben und Sie suchen sich einen neuen Rucksack aus. Was glauben Sie, mit welchem Rucksack Sie wieder den Heimweg antreten werden?

Kennen Sie die Abenteuer des Tom Sawyer von Mark Twain?  Tom hatte keine Eltern mehr und lebte bei seiner Tante Polly. Es wurde sehr schnell zu meinem Lieblingsbuch. Mein Onkel Corry hatte dieses Buch im Regal und weil ich bei meinen Großeltern aufgewachsen bin und Onkel Corry erst 14 war, als ich geboren wurde, und wir alle bei meinen Großeltern im Haus lebten, bis meine Eltern ein Haus gebaut hatten, wuchs ich praktisch mit meinem Onkel auf. Er las mir also die Abenteuer von Tom vor und so lernte ich sehr schnell, dass Abenteuer für Kinder wichtig sind. Nun ja, nicht gerade zur Freude meiner Mutter und auch meine Oma freute sich nicht sonderlich, aber mein Opa sagte immer: Lass sie, unsere Kleine muss die Welt erst noch entdecken.

Mein liebstes Spielzeug war mein Rucksack und ein Stock und so zog ich in die Welt hinaus. Ich ging auf eine Wiese und pflückte dort die schönen Blumen. Es gab viele Blumen auf der Wiese, ob Kuckucksblumen oder Butterblumen. Und für die Kaninchen packte ich Löwenzahn ein, um sie später damit zu füttern. In meinen Rucksack packte ich auch Steine, die ich meist in Maulwurfshaufen fand. Und wenn ich dann wieder zu meiner Oma kam, war mein Rucksack schwer. Also packte ich meinen Rucksack aus und zeigte meinem Onkel, was ich alles für tolle Sachen gefunden hatte. Die Steine kamen in ein Regal im Schuppen und die Blumen in eine Vase auf den Küchentisch. 

Und wenn ich nicht artig war, was ja öfters auch vorkam, dann sagte meine Oma immer zu mir: „Was machen wir nur mit dir?“

„Oh,“sagte ich dann, „Tom Sawyer musste immer den Zaun streichen, das kann ich ja auch machen.“ Und weil Onkel Corry auch nicht lieb war, half er mir dabei. So kam es, dass ich dann zusammen mit Onkel Corry den Zaun strich. Als meine Mutter kam und das sah, war sie nicht begeistert und schimpfte. Denn weil ich noch so klein war und der Pinsel so groß, hatten meine Kleider die gleiche Farbe wie der Zaun angenommen. Ich verstand nicht, warum ich jetzt böse war, weil ich den Zaun streichen wollte. Die Erwachsenen sind schwierig, das fand ich sehr schnell heraus.

Mein Opa hatte dann immer eine Antwort parat und sagte zu meiner Mutter, Kleidung wäre nur dafür da, dass sich ein Kind dreckig machen kann, denn die Farbe bekommt man ja nicht von der Haut runter. Super, oder?

Und irgendwann musste ich den Zaun alleine streichen, denn mein über alles geliebter Onkel Corry kam eines Abends nicht mehr nach Hause. Ich wartete schon sehnsüchtig, denn er hatte mir ja versprochen, mir noch weitere Geschichten vorzulesen. Es wurde später und später und plötzlich kam die Polizei. Sie erzählten meinen Großeltern, dass Onkel Corry nicht wiederkommen würde. Es war sehr heiß an dem Tag gewesen und so war er mit einem Kumpel zum Fluss gefahren, um noch etwas zu schwimmen. Er sprang ins Wasser und sein Herz hörte einfach auf zu schlagen. Wer nun glaubt, ein kleines Kind bekommt nicht mit, was passiert war, der irrt sich. Noch heute sehe ich die Polizisten vor mir, wie sie die traurige Nachricht überbrachten.

Ich war anfangs richtig wütend auf meinen Onkel, weil er so viele Tränen hinterlassen hatte. Diesmal konnte er nicht einfach den Zaun streichen und alles war wieder gut. Irgendwann war auch der Zaun nicht mehr da, denn dieser Zaun erinnerte alle zu sehr an Onkel Corry. Meine Großeltern bekamen einen neuen Zaun, der nicht mehr weiß gestrichen werden musste.

So packte ich schon mal die ersten Tränen in meinen Rucksack und vergessen habe ich meinen Onkel nie. Ja, in einen Rucksack kann man Steine packen, irgendwie das ganze Leben. Und er wird schwerer und schwerer und irgendwann, wenn wir unseren Rucksack abgeben müssen, will ihn keiner haben, denn diese Tränen und Sorgen möchte niemand mit einem teilen.

Nun war ich allein mit meinen Großeltern und wenn mein Opa mit mir spazieren ging, pflückte ich Blumen und legte sie auf das Grab meines Onkels. Und mein Opa sagte immer zu mir: Folge deinen Träumen und erkunde die Welt. Viele Menschen haben Angst, es zu tun, und sagen dann: „Ja, aber was, wenn…“ Das Schlimmste im Leben ist, zurückzuschauen und zu sagen: „Ich hätte es getan, ich hätte es tun können, ich hätte es tun sollen.“ Abenteuer bedeutet auch, Risiken einzugehen, etwas zu wagen. Und wenn du mal nicht artig warst, nimm einen Zaun und streiche ihn. Und wenn dir jemand sagt, dass du auf deine Kleider achten sollst, sage einfach, die Kleidung ist nur ein Schutz für deine zarte Haut.“

Dies ist nur eine kleine Geschichte aus meinem Leben und mein Rucksack ist schon voll gepackt. Natürlich kommen noch weitere Steine hinzu, aber wir wissen nie, wann wir diesen Rucksack abgeben müssen.

Wir leben heute in einer so schnelllebigen Zeit, dass sich viele auch gar nicht mehr bewusst sind, wer sie sind und welche Abenteuer sie einst erleben wollten. Tom Sawyer hat viele Abenteuer erlebt und warum vergessen so viele Menschen das Kind in sich? Sie verlangen von ihren Kindern so viel und denken nicht zurück, dass sie selber auch ein Kind waren. 

Sie stellen an andere so hohe Erwartungen, die sie nie an sich selber stellen würden, denn dann wüssten sie, dass sie enttäuscht werden. Man sollte viel bewusster mit anderen Menschen umgehen und auch viel mehr hinterfragen, warum jemand so ist, wie er ist.

Es gibt sicherlich irgendwo eine Tante Polly, die meckert und dann einen dazu verdonnert, den Zaun vor dem Haus zu streichen. Aber auch dazu hatte mein Opa einen tollen Spruch parat:
„Mein liebes Kind, betrachte das Leben wie eine Schifffahrt auf hoher See, du gibst ein Ziel vor und beginnst die Fahrt. So manchen Sturm hast du zu überstehen und manchmal kommst du auch vom Kurs ab. Deine Mannschaft wird oft wechseln, einige begleiten dich aber auf vielen Fahrten. Du wirst viele Inseln entdecken, die vor dir nie jemand gesehen hat. Schaue stets voraus und beobachte, sei aufmerksam und achtsam.Wage auch Risiken, denn sonst erreichst du das Ziel, welches du anpeilst, nie. Jede Fahrt ist anders …jede etwas Besonderes.“

Ich streiche gerne einen Holzzaun, denn dann fallen mir wieder neue Abenteuer ein, die ich gerne erleben möchte. Zur Zeit begebe ich mich auf ein Abenteuer mit meinem Enkelkind.Und auch ihr erzähle ich die Geschichte von Tom Sawyer, etwas abgewandelt, denn ich selber habe viele Abenteuer erlebt und auch ich war ein kleines Mädchen mit blonden Locken und großen blauen Augen. 

Und ich nutze genau die Sätze, wie sie mir einst mein Großvater beibrachte. Auch er musste irgendwann gehen und ließ mich allein zurück. Und ich weiß, er wäre stolz auf mich. Nicht weil er große Erwartungen hatte, was aus mir irgendwann werden würde. Sondern weil ich alle Abenteuer unbeschadet überstanden habe. Einige wenige haben dem Sturm der Zeit getrotzt, ich gehöre dazu. Habe oft den Wind aus den Segeln genommen, mich zurückgelehnt und eine Pause eingelegt. 

Auch bin ich oft vom Kurs abgekommen und musste viele Zäune streichen, doch bis jetzt kann ich zurückblicken und brauche mir nicht vorwerfen und sagen: „Ich hätte es getan, ich hätte es tun können, ich hätte es tun sollen.“ Nur meinen Rucksack, den wollen Sie wirklich nicht haben und das ist auch gut so, denn Ihren möchte ich auch nicht.

Ich gehe jetzt mal den Zaun streichen. Ob ich wieder was ausgefressen habe? Nein, habe ich nicht, aber man kann ja schon mal im voraus arbeiten.

Netzfrau Doro Schreier

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