Ein Teenager in Indien wurde vergewaltigt und lebendig verbrannt – der dritte Fall einer solchen schrecklichen Tat in nur einer Woche. Das 16-jährige Mädchen starb, nachdem es in ihrem Haus in Madhya Pradesh mit Benzin übergossen und angezündet worden war. Zwei weitere ähnliche Taten fanden diese Woche in Jharkhand statt. Eine 16-Jährige wurde beim lebendigem Leib verbrannt, nachdem ihre Eltern sich beim Dorfältesten über ihre Vergewaltigung beschwert hatten. Ein 17-jähriges Mädchen wurde von einem Mann angezündet, nachdem sie sich geweigert hatte, ihn zu heiraten. Es sind drei Fälle in nur einer Woche. Die Polizei sucht nach den Vergewaltigern eines Mädchens, das weder Gesicht noch Namen hat. Sie war möglicherweise zwischen neun und elf Jahre alt. Ihre verstümmelte Leiche wurde in einem Busch in der Nähe eines Spielplatzes im Westen des Bundesstaates Gujarat gefunden. Sie war vermutlich gefoltert worden, denn der kleine ramponierte Körper wies 86 Verletzungen auf. Die Strafregister Indiens zeigen, dass sich die Zahl der Vergewaltigungen an Kindern zwischen 2012 und 2016 mehr als verdoppelt hat. Mehr als 40% der weiblichen Opfer des Landes waren Minderjährige. Viele Fälle werden jedoch auf Grund des Stigmas, das mit Vergewaltigung und sexuellen Übergriffen verbunden ist, nicht gemeldet. Warum bekommt Indien die Vergewaltigungen nicht in Griff?
Warum brauchte Indien so lange zum Aufwachen nach den Vergewaltigungen und Morden an Kindern?
Dazu schreibt Soutik Biswas, Korrespondent beim BBC für Indien, den wir für Sie übersetzt haben. Bereits im März 2018 berichteten wir, dass die ersten Bundesstaaten Todesstrafe bei Vergewaltigungen von Kindern eingeführt haben.
Im Februar gab es in Kaschmir Proteste gegen den Vorfall (PRESS TRUST OF INDIA)
Ein aufgewecktes achtjähriges Mädchen, das zu einem muslimischen Nomadenstamm im indisch verwalteten Kaschmir gehört, wurde seit Anfang des Jahres vermisst.
Am 17. Januar wurde ihr zerschundener Körper in einem Wald des Bezirks Kathua geborgen. Im Februar nahm die Polizei acht Männer fest, darunter einen pensionierten Regierungsbeamten, vier Polizisten und einen Jugendlichen im Zusammenhang mit der Gruppenvergewaltigung und der [anschließenden] Ermordung des Mädchens.
Es gab Proteste in Srinagar, der Sommerhauptstadt, die eine besondere Untersuchung des Falls forderten. Das Verbrechen zeigt deutlich die Verwerfung zwischen der Mehrheit der Hindu, Jammu, und der muslimischen Mehrheit im Kaschmirtal in einem geteilten Staat. Der Vorfall wurde umgehend und ausführlich von den lokalen Medien des von Muslimen dominierten Tals aufgegriffen. Aber warum dauerte es bis April, bis diese Geschichte aus Kathua in den nationalen Nachrichten erschien? Warum ruft sie mit Verspätung Wut und Ärger hervor? Warum geschah [diese Veröffentlichung in den nationalen Medien] erst, nachdem rechtsgerichtete Hindu-Gruppen gegen die Verhaftung der Beschuldigten protestierten, die ebenfalls zu einer hinduistischen Gemeinde gehören? Warum sind die verspäteten Proteste in Delhi – darunter ein Mitternachtsmarsch, der von Rahul Gandhi, dem Führer der Opposition initiiert worden war – gemäßigter als diejenigen nach einer ebenso brutalen Gruppenvergewaltigung und Ermordung einer 23-Jährigen in Delhi im Jahr 2012?
Die Antworten auf diese Fragen sagen etwas über das moderne Indien aus. Viele glauben, dass die Medien in Delhi einen unverhältnismäßigen und unverdienten Einfluss auf die „nationale Berichterstattung“ ausüben. Große Bereiche dieser Medien sind parteiisch und willkürlich selektiv, wenn es um Berichte über Kaschmir geht, das eine der am stärksten militarisierten Zonen der Welt ist.
Indien und Pakistan haben zwei Kriege und einen begrenzten Konflikt um Kaschmir geführt. Seit 1989 gibt es eine bewaffnete Revolte gegen die indische Herrschaft in der Region. „Das größte Problem Kaschmirs ist die Art und Weise, in der der Ort in den nationalen indischen Medien Beachtung findet“, schrieb Shekhar Gupta, leitender Journalist und Herausgeber von The Print im Jahr 2015. „Dieses Problem ist eng verbunden mit den Themen nationale Sicherheit und militärische Sicherheit“.
Aus diesem Grund wurde die Wahrheit über Kaschmir als „Bedrohung der nationalen Sicherheit angesehen“, schrieb er.
In diesem Zusammenhang könnte man ebenso „religiöse Ehre“ als weiteren Grund dafür anführen, dass nationale Medien vermieden, über das Verbrechen zu berichten. Die Unterstützung, die rechtsgerichtete Hindu-Gruppen den Angeklagten – und zwei Ministern der regierenden Bharatiya-Janata-Partei zeigten, hat Viele schockiert. Erst am Freitagabend brach Premierminister Narendra Modi sein Schweigen mittels einer Serie von Twittermeldungen, dass „kein Beschuldigter verschont wird … dass unseren Töchtern Recht widerfahren wird“.
‚Keine so große Sache‘
Ein Journalist, der seit Januar über das Ereignis in Kathua berichtet hatte, sagt, dass er seine Kollegen, die für Nachrichtennetzwerke in Delhi arbeiten, dazu aufforderte, über das Verbrechen und seine Nachwirkungen zu berichten.
„Als einige Reporter deren Büros in Delhi aufsuchten, um ihnen von dem Vorfall Kenntnis zu geben, wurde die Einweihung eines Tulpengartens im Tals für besser befunden als eine Geschichte über Vergewaltigung und Mord eines Mädchens“, sagte mir Sameer Yasir, ein unabhängiger Journalist mit Sitz in Srinagar.
Laut Mr. Yasir machten die meisten Leiter der Nachrichtenbüro Ausflüchte mit der Begründung, es gäbe nicht genügend Reporter, die vor Ort in Jammu berichteten, und dass es [=die Vergewaltigung und der Mord des Mädchens] „keine so große Sache“ sei.
Einzig ein Netzwerk für englische Nachrichten hat durchgehend über den Vorfall berichtet.
„Ich glaube, dass die Medien es inzwischen fast satt haben, die ganze Zeit über Gewalt in Indien, Vergewaltigungen, Lynchmorde oder Folter zu berichten. Einen Bericht über Folter zu schreiben, ist fast so etwas wie einen [täglichen] Wetterbericht zusammenzustellen“, sagt Shiv Visvanathan, in Delhi ansässiger Sozialwissenschaftler.
Es handelt sich hier möglicherweise um das, was Dr. Visvanathan den „Zusammenbruch der Moralvorstellungen“ in Indien nennt. Pratap Bhanu Mehta, ein führender Intellektueller, stimmt dem in The Indian Express zu und sagt, die Vergewaltigung und der Mord in Kaschmir beweise „ohne Übertreibung, dass Indiens moralischer Leitfaden vollkommen vernichtet, quasi per Flächenbombardement ausgelöscht worden sei, und zwar genau von den Wächtern über Gesetz, Moral und Tugend, die täglich über Nationalstolz predigen“.
In einer zutiefst gespaltenen Gesellschaft sind gemeinsame Aktionen immer schwierig. Empörung entsteht, – wie in diesem Fall – wenn grausame Details der Qual, der dieses Mädchen ausgesetzt war, das Gewissen Vieler aufrütteln. […]
‚Empörung à la ‚Rip van Winkle‚
Viele sagen, die gleichfalls grausame Gruppenvergewaltigung in Delhi 2012 habe Riesenproteste in der Hauptstadt hervorgerufen, weil das Opfer wie „eine von uns“ gewesen war, die auf dem Heimweg von einem Kinobesuch mit ihrem Freund zusammen angegriffen wurde. Das Mädchen in Kathua war hingegen […] Mitglied einer armen Nomadengemeinschaft, die zur untersten und notleidendsten Schicht in Indiens erbarmungslosen und grausamen Kastenhierarchie gehört.
„Jeder [hier] ist mitschuldig – wir, die Menschen, die Medien, die Politiker. Es gibt keine Vorstellung von Menschenrechten mehr. Es gibt Rechte für Hindus und solche für Muslime. Wir sind jetzt [nur noch] Anhänger von Religionen, Kasten, Gruppen und Vereinen, sagt Dr. Visvanathan.
In einem solchen Umfeld – so sagen Viele – sind spontane Empörung und „Whataboutism“ die beiden extremen Gefühlsreaktionen, die Gewalttaten wie diese hervorrufen. Die Empörung schwindet rasch dahin, was Dr. Visvanathan die „Rip-Van-Winkle-Eigenschaft“ von Empörung und Entrüstung nennt:
„Unsere Reaktionen wechseln von Schweigen über Gleichgültigkeit zu Hysterie. Dann gehen wir schlafen, wachen [am nächsten Tag] auf und reagieren [wieder] auf den neuesten Vorfall mit Empörung“.
Anmerkung der Übersetzerin:
„Rip van Winkle“ ist die Figur einer Erzählung des amerikanischen Schriftstellers Washington Irving (1783 – 1859), der zur englischen Kolonialzeit in den Bergen New Yorks in einen Zauberschlaf fällt, erst nach zwanzig Jahren wieder aufwacht und feststellt, dass er nun nicht mehr Untertan des englischen Königs, sondern Bürger der Vereinigten Staaten ist.
India rape: Third teenager attacked and burned in a week https://t.co/1IzNecwxcV
— BBC News (World) (@BBCWorld) May 11, 2018
Why did India wake up so late to a child rape and murder?
Soutik Biswas India correspondent BBC
A bright looking eight-year old girl belonging to a Muslim nomadic tribe in Indian-administered Kashmir goes missing in the new year.
On 17 January, her battered body is recovered from a forest in Kathua district. Through February, police arrest eight men, including a retired government official, four policemen and a juvenile, in connection with the gang rape and murder of the girl.
There are protests in the summer capital, Srinagar, demanding a special probe into the incident. The crime exposed the fault lines between the Hindu-majority Jammu and the Muslim-majority Kashmir valley in a sharply divided state. The incident is covered promptly and prominently by the local media in the Muslim-dominated valley.
So why does this story from Kathua make it to national news networks only in mid-April? Why does it evoke delayed outrage and anger? Why does this happen only after Hindu right-wing groups protest the arrest of the accused, who also belong to a Hindu community?
Why are the eventual protests in Delhi – including a midnight march by chief opposition leader Rahul Gandhi – milder than the ones after a similarly brutal gang-rape and murder of a 23-year-old woman in Delhi in 2012?
The responses tell us something about modern India.
The media in Delhi, many believe, exerts a disproportionate and undeserved influence over shaping the „national narrative“. And large sections of this media have been partisan and selective when it comes to reporting on Kashmir, one of the world’s most heavily militarised regions.
India and Pakistan have fought two wars and a limited conflict over Kashmir and there’s been an armed revolt in the region against Indian rule since 1989. „The biggest problem in Kashmir is the way the place has been covered in the mainland Indian media,“ wrote senior journalist and editor of The Print, Shekhar Gupta, in 2015. „The problem has always been very closely linked to national security and military security.“
So, often, the truth (about Kashmir), he wrote, „was considered against national security“.
In this instance, one could possibly cite „religious honour“ as another reason for why most national media avoided reporting on the crime. The support shown to the accused by Hindu right wing-groups – and two ministers from the ruling Bharatiya Janata Party (BJP) – has shocked many.
Prime Minister Narendra Modi only broke his silence on Friday evening with a series of tweets, saying „no culprit will be spared… our daughters will definitely get justice“.
‚Not such a big story‘
A journalist who has been covering the incident in Kathua since January says that he had been telling his colleagues who work for Delhi-based news networks to report on the crime and its aftermath.
„When some of the reporters approached their offices in Delhi to tell them about the incident, the feeling was that the inauguration of a garden of tulips in the valley was a better story than the rape and murder of a girl,“ Sameer Yasir, an independent Srinagar-based journalist, told me.
According to Mr Yasir, most of their bosses prevaricated, saying they didn’t have enough people on the ground in Jammu, and that it was not „such a big story“. Only one English news network has been consistently covering the story.
„I believe that media is almost tired of reporting violence in India. Rapes, lynching, torture is being reported all the time. It’s almost like you have to run a torture report, like the weather report,“ says Shiv Visvanathan, a Delhi-based social scientist.
It is possibly all about what Dr Visvanathan calls the „breakdown of moral imagination“ in India. Writing in The Indian Express newspaper, Pratap Bhanu Mehta, a leading public intellectual, agreed, saying the Kashmir rape and murder proves „without exaggeration, that India’s moral compass has been completely obliterated, carpet-bombed out of existence by the very custodians of law, morality and virtue who give daily sermons on national pride“.
In a deeply divided society, collective action is always difficult. Outrage happens – as in this case – when graphic details of the torture inflicted on the girl stir the conscience of many. This is what happened in this case.
‚Rip Van Winkle outrage‘
Many say the equally horrific 2012 Delhi gang-rape provoked huge protests in the capital because the victim was like „one of us“ who was attacked on the way home with her male friend after watching a Hollywood film at a cineplex. On the other hand, the girl in Kathua was a veritable vagabond, a member of a poor nomadic community, languishing bottom-most in India’s unforgiving and cruel caste hierarchy.
„Everyone is complicit – we the people, media, politicians. There’s no concept of human rights anymore. There are Hindu rights and Muslim rights. Our loyalties are now to religion, caste, groups and clubs,“ says Dr Visvanathan.
In this environment, say many, instant outrage and „whataboutery“ are the two extreme emotions that violence like this provokes. The outrage waxes and wanes quickly – Dr Visvanathan calls it the „Rip Van Winkle nature“ of outrage and indignation.
„Our reactions veer from silence to indifference to hysteria. Then we go back to sleep and wake up again to react to the latest incident of outrage“.
Netzfrauen Ursula Rissmann-Telle und Doro Schreier